Georgi blickt zurück: der ehemalige Leibwächter des letzten russischen Zaren lebt mit seiner Frau Soja im Exil in London, wo er bis zum Ruhestand lange Jahre in der Bibliothek des British Museum tätig war. Ein langes, erfülltes Leben und eine lange, glückliche Ehe, die nun mit dem Tod seiner Frau endet.
Das Ehepaar hat sich dem Leben auf der britischen Insel angepasst, mit der einzigen Tochter englisch gesprochen und jahrelang zurückgezogen gelebt, doch es rankt sich ein Geheimnis um sie: sie stammen aus Russland, Georgi aus einem kleinen Dorf - und Soja... nun, sie stammt von ganz anderen Kreisen ab.
Georgi durfte zur Belohnung dafür, dass er einem Mitglied der Zarenfamilie das Leben gerettet hat, mit den zaristischen Truppen nach St. Petersburg ziehen, um Leibwächter des Zarewitsch zu werden - zu der Zeit eine unglaubliche Entwicklung, die man sich nicht mal im Traum vorstellen konnte und natürlich eine Riesenchance für ihn, dem engen und ärmlichen Dorfleben zu entkommen. Dort lernt der nicht nur den Zarewitsch Alexej kennen, sondern auch seine Eltern und die vier Schwestern - und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Das &
34;Haus zur besonderen Verwendung&
34; steht in Jekaterinburg und wird zum Ort des Schicksals für Georgi und für seine spätere Frau.
Zu viel soll an dieser Stelle vom Inhalt nicht vorausgenommen werden, doch fügt sich dieser Roman in den Kreis derer ein, die Geschichte neu, bzw. umschreiben wie es bspw. Stephen Fry in &
34;Geschichte machen&
34; und Eric Emmanuel Schmitt in &
34;Adolf H.: zwei Leben&
34; in bezug auf das dritte Reich getan haben. Hier greift Boyne das Anastasia-Mythos - die immer wiederkehrende Legende des 20. Jahrhunderts, dass die jüngste Zarentochter die Ermordung der Zarenfamilie überlebt hat, auf und fügt seine Version in die historische Realität ein.
Der Autor versteht es, Spannung aufzubauen und den Leser nach dem weiteren Verlauf der Handlung gieren zu lassen. So fällt es nicht schwer, den Roman in wenigen Tagen zu lesen. Doch der eigentliche Kracher, das absolute Aha-Erlebnis wie im &
34;Pyjama&
34;, in dem Boyne die Geschichte zwar nicht umformuliert, wohl aber virtuos mit ihr spielt und gar ins Fabelhafte abdriftet, bleibt hier aus. Das eigentliche Geheimnis ist vorhersehbar, der Roman entwickelt sich wenig spektakulär.
In seinem Erstlingswerk &
34;Der Junge im gestreifen Pyjama&
34; thematisierte Boyne auf eindringliche Weise einen der relevantesten historischen Einschnitte des vorigen Jahrhunderts - die Judenverfolgungen der Nazizeit, indem er sie in eine irreale, ja fabelartige Geschichte einbaute - eine spannende, sehr starke und ungeheuer eindrucksvolle Erzählung von großer Tragweite, die dem Leser eine völlig neue Sichtweise und unerwartete Dimensionen offenbarte. Vom &
34;Haus zur besonderen Verwendung&
34; habe ich nach der vielversprechenden, sprachlich ansprechenden Leseprobe Ähnliches erwartet und wurde in dieser Beziehung leider enttäuscht. Nicht enttäuscht jedoch hat mich die Sprachgewalt und das ungeheure Faktenwissen des Autors, das auch die Lektüre dieses Romans zum Lesevergnügen werden lässt - ungeachtet der kleinen Enttäuschung bezüglich des fehlenden Aha-Erlebnisses. Diesem Buch fehlt die Einmaligkeit des Vorgängers - doch aufgrund des erläuterten Potentials lässt es auf weitere literarische Meilensteine des Autors John Boyne auf dem Niveau von "Der Junge im gestreifen Pyjama" hoffen.