Südamerikanische Schicksale
Isabel Allende war in den letzten 10 Jahren ein bißchen von meinem Radar verschwunden. Als ich über dieses neue Buch von ihr gestolpert bin, griff ich begeistert zu. Überrascht, dass sie in ihrem Alter ...
Isabel Allende war in den letzten 10 Jahren ein bißchen von meinem Radar verschwunden. Als ich über dieses neue Buch von ihr gestolpert bin, griff ich begeistert zu. Überrascht, dass sie in ihrem Alter immer noch Romane schreibt. Wie ich bei einer kurzen Recherche gesehen habe, war sie aber auch die anderen Jahre über nicht untätig, die Kritiken zu ihren neueren Werken sind jedoch nicht alle positiv gewesen. Zu kitschig, zu schmalzig, zu belanglos. Eine südamerikanische Rosamunde Pilcher, so schreiben die Kritiker. Zum Glück ist der aktuellste Roman wieder ein Glanzwerk, und erfüllt in meinen Augen keines der zuvor genannten Attribute.
Der in der Kurzbeschreibung erwähnte Zufallsbekanntschaft und nachfolgende Beseitigung einer Leiche ist eigentlich nur die Rahmenhandlung, die alles verbindet. Ein Vehikel, um die eigentlichen Geschichten von Lucia, Evelyn und Richard zu erzählen (und in deren Verlauf auch von einigen Leuten mehr). Und diese waren es auch, die mich am meisten interessierten, faszinierten und berührten. Dabei erzählt Allende es eigentlich eher rational-neutral-faktisch orientiert und keineswegs gefühlsduselig. Dafür ist auch gar kein Platz, denn bei der Fülle von Erlebnissen jeder einzelnen Person kann sie innerhalb dieser 348 Seiten alles nur sehr komprimiert und aufs Wesentliche reduziert wiedergeben. Aber mir hat genau diese Erzählweise gut gefallen. Ich erfuhr dadurch viel Interessantes über das Leben in verschiedenen südamerikanischen Ländern, und musste mich nicht durch langatmiges Geschwafel kämpfen.
Besonders die Flucht von Evelyn habe ich gebannt verfolgt. Am gefährlichsten sind dabei ja nicht mal die US-Grenzpolizisten, sondern die verrückten Fanatiker, die meinen auf eigene Faust ihr Land vor Eindringlingen zu verteidigen, von ihrem Recht Waffen zu tragen Gebrauch machen und illegal Eingewanderte in der Wüste "erschießen wie Hasen", wie Allende es so treffend beschreibt. Dass es diese Wahnsinnigen wirklich gibt, und diese auch der vollsten Überzeugung sind damit ihren Landsleuten nur Gutes zu tun, habe ich erst vor einigen Wochen in einer Galileo-Reportage gesehen. Was ich nicht mitbekommen habe ist, ob solch ein kaltblütiger Mord - denn nichts anderes ist es - dann eigentlich straffrei bleibt. Auf Verteidigung ihres eigenen Grundes kann man sich im Grenzbereich wohl kaum berufen, und mit Notwehr herausreden schon mal gar nicht!
Allende schafft es auch immer wieder, die Ereignisse um den Militärputsch von 1973 in Chile in ihren Romanen einzubauen - zumindest in denen die ich bisher gelesen habe. Fand ich aber gar nicht nervig oder repetitiv, denn entweder hatte ich schon wieder vergessen oder mir eh nie gemerkt gehabt wie das Ganze eigentlich zustande kam. Insofern war das für mich auch lehrreich.
Verwundert hat mich etwas ja von Anfang an der Titel. Wo es doch mit einem Schneesturm beginnt. Ich dachte zunächst, dass sich die Geschichte vielleicht bis in den Sommer fortsetzt. Dann sah ich, dass das Buch im Englischen "In the Midst of Winter" und im Original "Más allá del invierno" heißt. Mitten im Winter, das passt viel besser zum Setting. Wie kam nur der deutsche Verlag dann auf diesen komischen Titel, wunderte ich mich. Erst in der vorletzten Zeile kam die Erleuchtung. Da zitiert einer der Protagonisten Albert Camus "Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist". Ein wunderschöner Satz, und der zuständige Mitarbeiter im Suhrkamp Verlag tat schon gut daran, den 2. Teil dieses Satzes als Titel zu nehmen. Hört sich im deutschen einfach auch viel besser an als "Mitten im Winter".
Meist merke ich mir Zitate ja nicht, aber hier gab es 3 weitere Sätze, die ich zumindest so toll fand, dass ich mir die Textstellen fotografiert habe um sie nicht gleich wieder zu vergessen.
- "Ihr Verlangen, das Leben auszukosten, wuchs beständig, während ihre Zukunft schrumpfte..."
- (Um sich abzusichern, schickt Richard seiner Nachbarin jeden Abend eine kurze Nachricht.) "'Lebe noch'. Sie war nicht verpflichtet zu antworten, litt aber unter derselben Furcht und schickte immer drei Wörter zurück: 'Mist, ich auch.'"
- "Tränen sind gut, sie waschen von innen."