Die Rezension enthält leichte Spoiler!
Inhalt
Rebellische Tochter, erfolgreiche Violinistin und schließlich gefeierte Tierforscherin und Autorin. Len Howard verbrachte ihre zweite Lebenshälfte in einem abgelegenen Cottage im Süden Englands, wo sie mit Vögeln zusammenlebte, diese erforschte und sich mit ihnen anfreundete. Sie war nicht nur eine Pionierin auf ihrem Gebiet, sondern auch eine ungewöhnliche, moderne, feministische Frau. Umso schöner, dass Eva Meijer ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzt.
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: btb
Seitenzahl: 320
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Len Howard)
Kapitellänge: mittel bis eher lang, dazwischen kurze Vogelbeobachtungen
Tiere im Buch: + / - Es wird Hummer gegessen, Vögel verhungern, sterben aus Kummer, werden bei Heckenarbeiten grausam getötet. Die Protagonistin tötet zudem eine Taube mit einem Stein, um sie zu erlösen. Positiv ist, dass der sorglose, rücksichtslose Umgang mit unseren Singvögeln und generell Tierversuche mit Vögeln von der Forscherin scharf kritisiert werden, weil sie keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, oft grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, der schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für eine tierversuchsfreie Forschung kämpft.
Warum dieses Buch?
Als Tierliebhaberin bin ich natürlich immer daran interessiert, mehr über die großen und kleinen Lebewesen zu erfahren, die uns umgeben. Zudem habe ich mich immer gefragt, wie der Alltag als TierforscherIn aussieht. Weibliche Forscherinnen erhalten ja oft viel weniger Aufmerksamkeit als ihre männlichen Kollegen, daher freute ich mich umso mehr, dass Len Howard im Mittelpunkt dieser Geschichte steht und wollte dieses Buch unbedingt lesen.
Meine Meinung
Einstieg (+/-)
Der Einstieg machte mich sofort neugierig, auch wenn es schlussendlich nach dem Prolog, vor allem durch diesen großen Zeitsprung in die Jugend von Len Howard, länger gedauert hat, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war und auch mit der Hauptfigur eine Verbindung aufgebaut hatte. Woran das lag, darauf gehe ich später noch näher ein.
"'Sie können die Hecke jetzt nicht beschneiden. Sie ist voller Nester. Die meisten Jungen sind schon aus dem Ei geschlüpft.' Meine Stimme ist höher als sonst, mir ist, als drücke mir jemand die Kehle ab. [...]
' Wenn Sie die Hecke beschneiden wollen, müssen sie erst mich aus dem Weg räumen.'" Seite 6
Schreibstil (+/-)
Was den Schreibstil angeht, bin ich zwiegespalten. Einerseits schreibt Eva Meijer flüssig, angenehm und einfach, manchmal sind ihre Beschreibungen sehr treffend, sensibel und teilweise sogar poetisch. Andererseits war mir die Sprache teilweise auch ZU einfach, zu kühl, zu spannungsarm, mit zu wenigen Ecken und Kanten, um mich mitreißen und begeistern zu können.
„Ich erzähle ihr, dass ich Worte manchmal fürchte, weil sie Dinge einfangen, die man besser nicht einfangen sollte.“ Seite 65
„Das Früher ist ein Hügel in der Ferne, der nicht mehr näher, aber auch nicht weiter weg rückt. Das Jetzt ist ein Gesicht in der Menge, das einen Ausdruck annimmt, das deinen Blick erwidert und vorbeigeht.“ Seite 112
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)
Wie einige andere LeserInnen auch, habe ich mir nach dem etwas fehlleitenden Klappentext vom vorliegenden Buch etwas anderes erwartet. Ich rechnete damit, dass Len Howards späte Jahre und ihre Vogelbeobachtungen den größten Teil des Romans ausmachen würden, leider wurde dem Thema aber nur ein Drittel gewidmet (und auch in diesem Abschnitt hätte ich mir oft mehr Details gewünscht). Ein großer Teil des Buches beschäftigt sich jedoch biographisch (hier wurde wurden nach eigenen Angaben der Autorin Fakten und Fiktion vermischt) mit den früheren Jahren der Forscherin, mit ihrer Jugend und ihrer Zeit als Violinistin in einem Orchester. Manche Szenen konnten mich absolut überzeugen, die Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts konnte mich vollkommen für sich einnehmen, andere Kapitel und Schilderungen wirkten auf mich jedoch auch sehr banal, zu oberflächlich und nicht interessant genug.
Verzaubern konnten mich an diesem Buch, das in den Niederlanden bereits einige Preise erhalten hat und zu einem Bestseller wurde, die Vogelbeobachtungen, die man immer am Beginn jeden Kapitels findet und Len Howards deutlich spürbare Liebe zu ihren Vögeln, die man auch in den Bildern erkennt, die am Ende des Buches beigefügt wurden. Manche Themen wie Erwachsenwerden und Selbstfindung, das Abnabeln von der Familie, werden tiefgründig und authentisch behandelt, viele andere Aspekte wie die Freundschaften von Gwendolen bekommen aber meiner Meinung nach zu wenig Raum. Zudem waren meine Erwartungen nach dem Lesen des Klappentexts hoch und ich wartete ständig darauf, dass mich der Roman wie angekündigt „zwingt, herkömmliche Vorstellungen in Frage zu stellen“, was aber leider nicht so richtig geschehen wollte. Das Ende fand ich rund und gelungen, auch wenn es mir nicht lange im Kopf bleiben wird.
„Im September und Oktober packte die Kohlmeisen die Zerstörungswut: Sie zerfetzten Papier und pickten Löcher ins Holz. Das schien ihnen ganz einfach Spaß zu machen, außerdem hatten sie viel freie Zeit, nun da ihr Nachwuchs selbst für sich sorgen konnte und sie noch nicht mit Vorbereitungen für den Winter zu beginnen brauchten.“ Seite 101
Protagonistin (+/-)
Was die Heldin betrifft, bin ich ebenfalls zweigeteilt. Um ehrlich zu sein, war mir Len Howard in ihren frühen Jahren am sympathischsten. Ihren Drang, sich von der Familie und deren (konservativen) Werten zu emanzipieren und die Welt zu entdecken, kennt wohl jede/r Heranwachsende. Jedoch gelang es mir im ganzen Buch nicht, eine wirklich enge Bindung zur Hauptfigur aufzubauen. Sie schien mir oft kühl, wenig emotional und bot (abgesehen von ihrer Tierliebe und ihrem Engagement für die Vögel) wenig Identifikationsfläche. Mit zunehmendem Alter wird die Forscherin immer mürrischer und scheint immer weniger Geduld mit den Menschen zu haben (was an sich eigentlich schon eine glaubwürdige Entwicklung ist). Nicht immer konnte ich dabei Lens Verhaltensweisen verstehen. Zum Beispiel hatte ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie sich nach ihrem Umzug überhaupt nicht mehr bei ihrer Familie gemeldet hat – angeblich, weil sie so viel zu tun hatte. Meiner Meinung nach eine Ausrede. Sie entschloss sich bewusst, ihre Schwester, die ihre Mutter und ihren Bruder alleine pflegte, vollkommen im Stich zu lassen. Das hat meine Gefühle ihr gegenüber nicht gerade erwärmt.
„Auf dem Rückweg fängt es an zu schneien. Der Schnee bringt Trost und Verheißung. Kinder dürfen noch kurz nach draußen, Erwachsene begreifen wieder, dass sie auch mal Kinder waren.“ Seite 96
(Neben)Figuren (-)
Auch hier muss ich mich einigen anderen RezensentInnen leider anschließen. Während die tierischen Mitbewohner der Forscherin detailliert beschrieben und liebevoll ausgearbeitet werden, so bleiben menschliche WegbegleiterInnen meist nur kurz in Lens Leben, sind dabei oft blass und austauschbar. Man erfährt (bis auf wenige Ausnahmen) einfach zu wenig über sie, um sie ins Herz zu schließen, obwohl man das eigentlich doch möchte. Manchmal fehlt dieses gewisse Etwas, das sie unverwechselbar und unvergesslich macht. Dieser Eindruck hängt wohl auch mit den großen Zeitsprüngen zwischen den Kapiteln zusammen, nach denen man sich immer erst einmal wieder in Gwendolens Leben zurechtfinden muss.
Spannung & Atmosphäre (-)
„Das Vogelhaus“ ist ein ruhiges, stilles, manchmal melancholisches, teilweise sehr atmosphärisches Buch, das stark von Lens alltäglichen Beobachtungen durchzogen ist. In manchen Momenten fand ich das Buch wunderbar entschleunigend, faszinierend, überzeugend, poetisch, oft fand ich es jedoch auch langatmig, teilweise sogar langweilig und musste mich zwingen / motivieren, weiterzulesen. Einen durchgehenden Spannungsbogen gibt es nicht, es sind eher Neugier und Interesse für diese ungewöhnliche, progressive Frau, die einen weiterlesen lassen. Punktuell wird durchaus Spannung aufgebaut, was gut gelingt, die Durststrecken dazwischen haben mich jedoch immer wieder gestört.
„Am Strand zieht feiner Regen graue Streifen durch die Luft – grauer Strand, graues Meer, grauer Himmel. Meine Lippen sind salzig, ich summe Noten, um meine Stimme zu hören. Sie verwehen.“ Seite 120
Geschlechterrollen (♥)
Gwendolen Howard war ohne Frage eine Frau, die für ihre Zeit ungewöhnlich, vielleicht sogar geradezu empörend emanzipiert war. Sie verteilt Flyer für die Suffragetten-Bewegung und lässt sich auch sonst von niemandem etwas vorschreiben, geht ihren eigenen Weg. Zudem weigert sie sich zeitlebens, zu heiraten, unter anderem wohl auch, um ihre Freiheit zu behalten. Trotz ihrer konservativen Familie, die ihr versichert, dass sie nicht arbeiten müsse, dass es ihre Aufgabe sei, sich wie eine Dame zu verhalten und einen respektablen Ehemann zu finden, beschließt Len, Violinistin zu werden und in einem Orchester zu spielen. Sie arbeitet hart für ihre Erfolge, wehrt sich gegen Sexisten und kritisiert immer wieder die Tatsache, dass in der Wissenschaft Frauen oft nicht so ernst genommen werden wie Männer. Lens Freundinnen leben ebenfalls lange Jahre ein sehr selbstbestimmtes Leben, manche haben zahlreiche Liebhaber – niemals wird dieses moderne Liebesleben im Buch verurteilt, was ich großartig finde (vor allem in einem Roman, der in der Vergangenheit spielt)! Aus all diesen Gründen konnte mich „Das Vogelhaus“, was diesen Aspekt betrifft, auf ganzer Linie überzeugen!
Mein Fazit
„Das Vogelhaus“ ist ein interessanter, stiller Roman, der mich leider insgesamt nicht ganz überzeugen konnte. Der Schreibstil ist angenehm und flüssig, sensibel, manchmal aber auch langatmig, kühl und distanziert, auch zur Hauptfigur blieb leider immer eine gewisse Distanz, was mit Sicherheit auch an den großen Zeitsprüngen im Buch liegt. Die Nebenfiguren fand ich leider blass und austauschbar (bis auf wenige Ausnahmen), überhaupt fehlten mir insgesamt Tiefe und Spannung. Dennoch gab es auch Aspekte, die mich überzeugen konnten: Manche Beschreibungen waren poetisch bis philosophisch, Lens enge Freundschaft zu den Vögeln und ihre Beobachtungen sind faszinierend und lehrreich und ihre Liebe zu den Tieren ist auf jeder Seite spürbar. Die Forscherin war eine interessante, ungewöhnlich moderne, leidenschaftliche und feministische Frau, daher ist es schön, dass die Autorin mit diesem Buch dafür sorgt, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2-3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Interessant und lehrreich!
Insgesamt:
❀❀❀ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir 3 nicht ganz überzeugte Lilien!