Anja Kampmann erzählt mit schönen Sätzen, poetischem Bick und synästhetischen Details die Wochen des Bohrinselarbeiters Waclaw, nachdem dessen Kabinennachbar und Freund Mátyás in der Finsternis des Atlantiks verschwunden ist. Waclaw macht sich auf, nach den Spuren von Mátyás zu suchen und begibt sich gleichzeitig auf eine Suche in eigener Sache.
Zu Beginn ist Waclaw ganz im Nebel seines Traumas gefangen: Der Verlust ist kaum zu fassen, die Welt um ihn verliert an Wirklichkeit. Kampmann setzt dies wunderbar in Sprache um, indem sich Gedanken, Handeln und Umgebung Waclaws ebenfalls in einen diffusen Nebel begeben, häufig wechseln und in der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu fassen, zu unterscheiden und zu beurteilen, alles glich wichtig oder unwichtig erscheint. Erst auf Seite 49 getraut sich Waclaw, Mátyás‘ Verschwinden auszusprechen: ein „accident“, vielleicht. Nun nimmt Waclaws Reise an die Orte, die beiden wichtig waren, Fahrt auf, schält sich ein Ziel heraus, das mehr ist als nur eine Flucht von der Bohrinsel: nach Ungarn, in Mátyás Dorf. Waclaws Weg mäandert nun durch die Zeiten und rund um das Mittelmeer, immer auf den Spuren. Hat er Mátyás geliebt? Waren sie ein Liebespaar? Ja, doch wird es nie explizit ausgesprochen.
Spätestens nachdem Waclaw in Mátyás‘ kleinem ungarischen Dorf gewesen ist, begreift er, dass sein Weg eine Reise rückwärts durch das eigene Leben ist. Dass er sich auf den Spuren seiner selbst bewegt, und einen Halt in sich sucht, der mit dem Tod seines Freundes weggebrochen war. Dieser innere Halt ist die Heimat, und die Heimat sind die Menschen, die ihm auf seinem Weg wichtig gewesen sind, Waclaw reist nach Italien, sucht nach Milena, nach dem Husten des Vaters, nach der Zeche im Ruhrpott. Die ganze Zeit verlässt der melancholische Nebel den Weg des Lesens nicht, hellt nur bisweilen auf, wenn mit Mátyás‘ Schwester Patrícia oder des Vaters Freund Alois echte Menschen in Waclaws Weg treten. Die Bedeutung der Tauben in diesem Roman liegt in ihrer Fähigkeit, ihre Heimat wieder zu finden. Darin sind sie Waclaw überlegen, und er weiß es.
Warum hat mir der Roman dennoch nicht gefallen?
Zunächst ist es die Detailverliebtheit der Autorin, die anfangs als erzählerisches Konzept wunderbar funktionierte, aber irgendwann zur Mache mutiert, der Handlung und der Erkenntnis im Weg steht. Die völlige Gleichgewichtung von elementarer Erinnerung und Fliegenleichen auf der Windschutzscheibe erregt in mi den Eindruck, der Erzählung eines Autisten zu folgen, der Wesentliches nicht aus dem Unwesentlichen herausfiltern kann.
Das Waclaw auf einer Reise zu sich ist, benötigt meines Erachtens nicht so viele Orte. Die Beliebigkeit, in der von Tanger nach Kairo, von Budapest nach Parma, von Bottrop nach Rotterdam gesprungen wird, wirkt bisweilen wie hektische Kulissenschieberei und lässt Waclaws Reiseumfeld zerfasern.
Kampmann liegt sprachlich nicht immer ganz richtig. Jungenkörper, die ins Wasser springen, machen nicht „klackklack“ (S. 195) Anglizismen wie „Waclaw erinnert dies oder jenes“ (z.B S. 52, 118) liegen unter dem sprachlichen Niveau Kampmanns und stören gewaltig. Auch das Fehlen der Anführungszeichen als Kennzeichen wörtlicher Rede hemmt Lesen und Verstehen der Begegnungen im Text unnötig.
Am meisten aber stört mich, dass Kampmann mit einem Arbeiter auf einer Bohrinsel einen harten Kerl aus einer extrem maskulinen Welt zu ihrem Protagonisten macht, ihn aber eigentlich nie in dieser Welt zeigt. Waclaw ist nachdenklich, traumatisiert, sensibel - also alles andre als ein harter Kerl. Schlimmer noch: Er ist nicht einmal männlich. Ich habe den Eindruck, Kampmann hat die Männer oder zumindest diesen Mann nicht verstanden.
„Wie hoch die Waser steigen“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018, was ich nachvollziehen kann, weil Kampmanns Sprach ein hohes Niveau hat. Aber für meien Shortlist reich es nicht.