Zu allererst: Ich würde gerne auf eine Bewertung verzichten, weil ich dieses Buch irgendwie unbewertbar finde, aber das geht hier leider nicht. Irgendwie kommt es mir nur falsch vor einem Buch eine gute Bewertung zu geben, wenn es mich so hat leiden lassen. Es ist in dem Sinne kein "gutes" Buch. Ich würde es nicht empfehlen, zumindest nicht ohne Vorbehalt. Dieses Buch war heftig und deshalb fühle ich mich eigentlich nicht in der Lage es zu bewerten, aber was soll's. Kommen wir zur Rezension an sich:
»Sein Wissen hatte er aus Büchern, und Bücher logen, sie beschönigten die Wahrheit.« (S. 882)
Dieses Zitat taucht gegen Ende des Buches auf und ist mir vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil es genau das Gegenteil von dem beschreibt, was »Ein wenig Leben« tut. Hier wird nichts beschönigt, nicht im geringsten. Ich muss sagen, dass »Ein wenig Leben« eines der deprimierendsten Bücher ist, das ich je gelesen habe. Wenn nicht sogar das deprimierendste. Keine Ahnung, warum mich das wundert, das Cover gibt schließlich schon einen kleinen optischen Vorgeschmack auf das Leid, das in diesem Buch zum Ausdruck kommt.
Ich weiß gar nicht so genau wo ich anfangen soll, denn irgendwie fällt es mir sehr schwer über das Buch zu sprechen. Ich kann es gar nicht richtig in Worte fassen. Und obwohl ich »Ein wenig Leben« ursprünglich dem Bauchgefühl nach 4 Sterne geben wollte, habe ich letztendlich doch auf eine Bewertung verzichtet, denn ich denke nicht, dass so ein Bewertungssystem richtig ausdrückt, wie sehr dieses Buch mich hat mitleiden lassen. Und nein, ich übertreibe an dieser Stelle nicht.
Vielmehr frage ich mich im Nachhinein – nachdem ich bereits unendlich viele Tränen vergossen habe und mein Herz für bestimmte Charaktere gebrochen ist – warum ich mir dieses Buch eigentlich angetan habe. Und… naja, es hat schon eine gewisse Sogwirkung? Also, so richtig? Ich rede hier von »Ich kann dieses Buch nicht aus der Hand legen, dabei müsste ich eigentlich schlafen oder hundert andere Dinge tun«-Sogwirkung. Das liegt zum einen daran, dass Hanya Yanagihara einen sehr schönen Schreibstil hat, der sehr angenehm zu lesen ist. Zum anderen besteht »Ein wenig Leben« – trotz, dass es ~950 Seiten hat – aus sehr wenig Kapiteln. Das Buch gliedert sich in neun Abschnitte, die wiederum jeweils nur zwei bis drei Kapitel haben und in den Kapitel selbst werden kaum Absätze gemacht. Dadurch, dass der Lesefluss also teilweise für viele, viele Seiten nicht unterbrochen wird, fiel es mir teilweise wirklich schwer das Buch aus der Hand zu legen.
Zu Anfang war ich mir recht lange gar nicht sicher, in was für eine Richtung diese Geschichte gehen würde, worum genau sie sich dreht, denn es dauerte ein wenig, bis ich an dem Punkt angekommen bin, an dem mir klar wurde, wer wirklich Mittelpunkt dieser Geschichte ist. Zunächst liest man aus den Sichten von allen vier Freunden, bis schließlich hauptsächlich nur noch Jude erzählt und einem klar wird, wie wenig seine Freunde eigentlich über ihn wissen, trotz, dass sie so gut befreundet sind. Es war erschreckend zu lesen wie viel Jude mit sich herumträgt, wie schlecht es ihm teilweise geht und wie wenig er sich helfen lässt. Es war teilweise unfassbar anstrengend in Jedes Kopf zu stecken, denn die Autorin schreibt sehr intensiv und emotional darüber was in Jude in gewissen Situationen vorgeht und seine Reaktionen trieben mir vermehrt die Tränen in die Augen. Was ich jetzt schon mehr als einmal erwähnt habe, ihr habt es also verstanden. Das hier ist ein trauriges Buch. Aber eben auch nicht nur. Und vielleicht ist traurig auch nicht ganz die treffende Bezeichnung. Jedenfalls ist »Ein wenig Leben« nicht rund um die Uhr deprimierend, es gab auch Szenen, die mich fast haben weinen lassen, weil sie schön waren. Zugegeben: Das waren wenige. Aber es gab sie. Ihr merkt also, dieses Buch war die reinste emotionale Achterbahnfahrt für mich und irgendwie bin ich wirklich froh, dass ich es beendet habe, da ich doch gemerkt habe, obwohl ich tagsüber nicht bewusst über das Buch nachgedacht habe, so hat es mir doch nach ein paar Tagen etwas auf’s Gemüt geschlagen.
Ein Aspekt, der mir wiederum richtig gut gefallen hat, war, wie viel Wert in diesem Buch auf Freundschaft und Familie gelegt wurde, gerade auch weil sich diese Beziehungen über Jahrzehnte ziehen und es sehr spannend zu lesen war, welche Stadien sie durchlaufen, welche Beziehungen wachsen und tiefer gehen und welche es schwieriger haben.
Aber auch gerade weil »Ein wenig Leben« aus mehreren Sichten und über einige Jahrzehnte hinweg seine Geschichte erzählt, muss ich ihm Nachhinein sagen, dass es an einigen Stellen fast schon zu lang war, insbesondere am Anfang hat mich das eher irritiert, als dass ich gut in die Geschichte reingefunden habe.
Fazit?
»Ein wenig Leben« ist ein Buch, das mich unfassbar mit seinen Charakteren hat mitfühlen lassen, so sehr wie kaum ein anderes Buch zuvor. Es war eine harte Geschichte, sehr ehrlich und schonungslos erzählt und wie gesagt, man muss definitiv in der richtigen Stimmung für diese Art von Geschichte sein. Verstehe ich warum so viele Leute es in den Himmel loben? Ein Stück weit schon. Dieses Buch wird mir definitiv in Erinnerung bleiben. Aber auf der anderen Seite war es glaube ich einfach nicht meine Art von Geschichte. »Ein wenig Leben« ist ein eindrucksvolles Buch, keine Frage und ich bin froh es gelesen zu haben und endlich zu wissen, was dahinter steckt, aber gleichzeitig war ich eben auch sehr froh, als ich die letzte Seite umgeschlagen habe und es zurück ins Regal stellen konnte.