Not und Elend schüren Hass und Skrupellosigkeit
Berlin Herbst 1923: Die Hyperinflation ist in vollem Gange. Das Geld wird schneller entwertet, als man es ausgeben kann. Die Armut wird immer erdrückender, doch einige haben von dem letzten Krieg profitiert ...
Berlin Herbst 1923: Die Hyperinflation ist in vollem Gange. Das Geld wird schneller entwertet, als man es ausgeben kann. Die Armut wird immer erdrückender, doch einige haben von dem letzten Krieg profitiert und finden auch jetzt ihr Auskommen, als Opportunisten. Die freiberufliche Hebamme Hulda Gold ist immer noch rund um den Winterfeldplatz aktiv, locker verbandelt mit Kriminalkommissar Karl North und immer bestens informiert von Zeitungsverkäufer Bert. Ihr jüdischer Vater hat ihr einen Auftrag bei einer bitter armen, jüdisch-orthodoxen Familie im Scheunenviertel besorgt. Hulda spürt sofort, dass in dieser Familie irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Als das Neugeborene kurz nach der Geburt verschwindet, scheint die harte Schwiegermutter erleichtert und die ungeliebte Schwiegertochter am Boden zerstört. Auch Karl zieht es beruflich ins Scheunenviertel, als auf einem abgestellten Anhänger eine ganze Wagenladung toter, ausgemergelter Kinder entdeckt wird. Stecken skrupellose Menschenhändler dahinter? Hulda würde Karl gerne unterstützen, der ist aber wenig angetan. Als sie jedoch endlich gemeinsam das Viertel aufsuchen, entlädt sich der stetig anschwellende Judenhass über dem Elendsviertel.
Die Hyperinflation sorgt für Not und Elend, der perfekte Nährboden um Hass und Missgunst gegenüber Minderheiten zu säen. So fällt Hitlers judenfeindliche Propaganda schon früh auf fruchtbaren Boden, auch wenn Stresemann und die junge Weimarer Republik das nicht unterstützen. Hulda hat sich nie viel um ihr jüdisches Erbe gekümmert, doch scheint der Glaube ihres Vaters, in dem sie nie erzogen wurde, allmählich immer wichtiger zu werden. Die Stimmung wird immer aufgeheizter und Anna Thalbach lässt ihre Stimme drängender werden. Der Angst die Hulda bisweilen bei Angriffen völlig Fremder empfindet, verleiht sie ebenso Ausdruck wie ihrem Entsetzen, als sie erfährt, dass ein Neugeborenes verschwunden ist und niemand etwas unternimmt. Hulda ist eine moderne Frau, sie kann das Unrecht nicht einfach so stehen lassen, sie muss etwas unternehmen und ihre Neugierde kommt ihr dabei sehr zu gute! Die politische Situation und die Verzweiflung durch die Geldentwertung wird hier sehr eindrücklich und drängend mit Huldas Alltag verwoben, obwohl Hulda sich gar nicht für Politik interessiert und diese am liebsten einfach ignorieren würde. Doch so einfach ist es nicht, denn das aktuelle Geschehen und der Zeitgeist treffen sie unmittelbar.
Es hat mir sehr gefallen Hulda und ihre Freunde, Bekannten ebenso wie ihre schöne Rivalin Helene wiederzutreffen. Anne Stern schafft es, atmosphärisch dicht, Not und Elend, sowie Überfluss dieser Zeit vor dem inneren Hörerauge heraufzubeschwören. Doch neben Not und Elend steigen Hass und Missgunst und sämtliche moralischen Hemmungen und Skrupel fallen. Eine Atmosphäre aus Angst und Gewalt entsteht, die zeigt, wie dünn die zivilisierte Lackschicht der Gesellschaft bei manchen ist, und wie leicht in der Not jegliche Solidarität vergessen wird. Ein Gefühl das sich aktuell bisweilen erahnen lässt und erschreckt und hoffentlich deutlich macht, wie wichtig die Demokratie ist. So wird es gegen Ende des Hörbuches wirtschaftlich deutlich besser und auch die Gesellschaft wird auf den ersten Blick wieder friedlicher und toleranter, aber leider wissen wir alle, dass dies nur von kurzer Dauer war. Eine dringend benötigte, unaufdringliche, aber unmissverständliche Warnung aus der deutschen Geschichte, die noch gar nicht allzu lange her ist. Dabei taucht man mit Hulda auch in die nicht nur ihr, unbekannte Welt des orthodoxen Judentums ein. Noch ist Religion und religiöse Herkunft für sie nicht wichtig, aber es macht sich langsam bemerkbar, dass Hulda auf Dauer nicht mehr alle unliebsamen Gedanken weiter ausblenden kann und einen Plan B für die Zukunft benötigt, wie ihre Freunde sie drängen. Ihre Freunde? Eigentlich hatte Hulda bislang keine Freunde, mehr Gönner, doch endlich ändert sich das für sie, denn gerade wenn die Zeiten schwierig werden, ist eine gute Freundin unerlässlich und ich freue mich, demnächst mehr über diese Freundschaft zu erfahren. Das Schicksal der getöteten Kinder macht uns hoffentlich allen deutlich, wie glücklich wir über unseren Sozialstaat sein können. Wenn Kinder zur Ware werden, ist die Menschlichkeit verloren.
Den historisch, persönlichen Teil finde ich in diesem Band sehr stark. Der Kriminalfall kommt mir allerdings etwas zu kurz, das Ende etwas zu abrupt. Die Problematik des Menschenhandels aus Elend spielt leider eine etwas untergeordnete Roll. Auch wenn Hulda über das gute Ende sicherlich erleichtert ist, so hat es doch für Karl einen bitteren Beigeschmack. Wieder eine Entwicklung die neugierig macht.
Ich bin sehr erleichtert, dass Hulda dieses mal die Finger von den Drogen lässt, wenn auch Karl in diesen schweren Zeiten mit wenig Vergnügen immer häufiger Trost im Gin sucht.
Anna Thalbach ist für mich die perfekte Wahl für die forsche, moderne Hulda, die selbst hin- und hergerissen ist. Mal klingt sie ganz weich, mal kratzbürstig oder entschlossen. Nie hat sie mich gelangweilt, ich hätte ihr noch stundenlang weiter zuhören können. Als waschechte Berlinerin vermag sie von jetzt auf gleich von Hochdeutsch ins Berlinerische zu wechseln und ihre Stimme den sozialen Klassen und Herkünften anpassen. So wird Huldas Ermittlung noch lebendiger.
Eine Reihe die ich sehr empfehlen kann und der ich auf jeden Fall weiter folgen werde.