REZENSION – Der Name des britischen Schriftstellers Robert Harris (63) verspricht üblicherweise Spannung. Doch sein im November auf Deutsch veröffentlichter Roman „Vergeltung“ erreicht leider nicht jenes Niveau, das wir von seinen Bestsellern „Vaterland“ (1992), „Enigma“ (1995) oder zuletzt „München“ (2017) gewohnt sind. Zwar widmet sich der Autor auch in seinem neuen Roman wieder einem bedeutenden Kapitel des Zweiten Weltkriegs, doch plätschert die Rahmenhandlung um den deutschen Ingenieur Dr. Rudi Graf und die britische Offizierin Kay Caton-Walsh, die der Autor um das eigentliche Thema des Einsatzes der deutschen Vergeltungswaffe V2 gesponnen hat, nur mäßig dahin und gewinnt erst ab Mitte des Buches etwas mehr an Dramatik.
Wir befinden uns im November 1944, nur sechs Monate vor Kriegsende. Das Deutsche Reich scheint besiegt, die Alliierten sind auf dem Vormarsch. Doch Hitler setzt alles auf seine „Wunderwaffe“, die von Wernher von Braun und seinen Ingenieuren in Peenemünde gebaute V2-Rakete – V wie Vergeltung. Rudi Graf, ein Freund Brauns seit Jugendzeiten, ist verantwortlicher Ingenieur im besetzten Holland, wo aus den Wäldern bei Scheveningen die ballistischen Flugkörper täglich von mobilen Abschussrampen in Richtung London gestartet werden. Die britischen Aufklärer können die in Überschallgeschwindigkeit fliegenden Raketen nicht orten, weshalb Kay Caton-Walsh und andere Soldatinnen des Frauenhilfsdienstes der Air Force im befreiten Belgien abgesetzt werden, um aus dortiger Nähe zur holländischen Grenze den Raketenstart zu beobachten, die Standorte der mobilen Startplätze zu berechnen und sie durch britische Bomber zerstören zu lassen.
Auch in „Vergeltung“ verbindet Robert Harris historisches Geschehen und real existierende Personen wie den deutschen Raketenbauer Wernher von Braun (1912-1977) und SS-General Hans Kammler (1901-1945) mit fiktiven Helden seines Romans, dessen Handlung zeitlich parallel und kapitelweise im Wechsel deren Geschichte erzählt. Zusätzlich erfahren wir aus Rudi Grafs Erinnerungen episodenhaft die Entwicklung des Raketenbaues seit 1928.
Wie Robert Harris im Nachwort schreibt, hat er sein Buch in den Wochen des ersten Corona-Lockdowns verfasst. Dies mag ein Grund sein, weshalb der Roman etwas lustlos aus Fakten und Fiktion zusammengeschrieben scheint. „Vergeltung“ lässt vor allem deshalb Spannung vermissen, da man hierzulande vielleicht genauer über Wernher von Braun und die V2 informiert ist, als es britische Leser sein mögen, weshalb diese Abschnitte des Romans eher langweilen. Bleibt die eigentliche Handlung um Rudi Graf und Kay Caton-Walsh. Doch deren Charaktere bleiben blass und wirken mit dem desillusionierten deutschen Ingenieur und der einsatzfreudigen britischen Offizierin, die zur Verteidigung ihrer Heimat „mit Rechenschieber und Logarithmentafeln“ gegen Deutschland kämpft, leider allzu klischeehaft. Da sind doch die Charaktere des von der Raumfahrt besessenen opportunistischen Wernher von Braun und des fanatischen SS-Generals Kammler, die beide im Roman nur als Randfiguren auftreten, wesentlich interessanter.
Robert Harris vermag mit seinem Roman kaum zu fesseln, wirkt die Handlung doch gelegentlich sogar unglaubwürdig. Wenn zum Beispiel Wernher von Braun als uniformierter SS-Sturmbannführer seinen unter Sabotageverdacht stehenden Freund Graf aus dem Verhör der SS befreit und ihn zurück nach Deutschland nimmt, als wäre der Verdächtige dort vor den Fängen der SS sicher. So bleibt „Vergeltung“ ein nur mäßig spannender, aber noch gut lesbarer Roman über ein interessantes Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Mehr aber auch nicht.