Im Roman "Betrunkene Bäume" geht es primär um den über 80-jährigen Erich, der in früheren Jahren Wissenschaftler gewesen war und mit Leib und Seele die Wälder und Bäume Sibiriens erforscht hatte. Nun aber, dem Alter geschuldet, fällt ihm die Bewältigung seines Alltags immer schwerer, er kann diese zunehmende Unselbstständigkeit und Bevormundung seiner Tochter Irina kaum ertragen. Halt geben ihm vor allem die Bäume, aber auch die Erinnerungen an sein früheres Leben mit seiner Frau, die er schrecklich vermisst.
Die zweite Hauptfigur ist die nicht ganz volljährige Katharina. Ihr Vater hatte sich entschlossen, eine Arbeitsstelle in Russland anzunehmen und die Familie zu verlassen. Katharina gibt ihrer Mutter die Schuld daran und haut nach einem Streit von zu Hause ab. Sie haust seitdem in einer heruntergekommenen Wohnung, während sie weder Geld für Essen hat, noch Wasser zum Duschen.
Zufällig wohnen beide nebeneinander und stellen schon kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen fest, dass sie etwas verbindet: Sibirien.
Das Buch erzählt eine berührende Geschichte über zwei Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich dennoch gegenseitig dabei helfen, ihre Probleme zu bewältigen. Besonders Erich ist dabei sehr authentisch beschrieben. Er hat so viele innere Konflikte, mit denen er täglich konfrontiert ist und die Art und Weise, wie er damit umzugehen versucht, ist für den Leser sehr nachvollziehbar und berührend.
Katharina als weitere Hauptfigur kann mit dieser Tiefe jedoch nicht mithalten. Irgendwie erfährt der Leser zu wenig von ihr - außer dass sie kein so intaktes Elternhaus hat, wie es ihr zu wünschen wäre. Einige Entscheidungen, die sie ihm Laufe des Buches trifft, sind zweifelhaft, trotz des jungen Alters.
Die Autorin nutzt eine ganz wundervolle Sprache, um die Geschichte zu erzählen. Sie beschreibt Einzelheiten und schmückt diese aus, sodass der Leser sich sofort in der Geschichte wieder findet. Stellenweise sind diese Ausschmückungen jedoch zu langatmig, in einigen Situationen passen sie meiner Meinung nach einfach nicht so gut, was den Lesefluss stört.
Die Erzählperspektive wechselt in jedem Kapitel, aber auch die Zeit, in der die Geschichte spielt. Dies lockert das Ganze zwar auf, aber mich hat dabei gestört, dass man teilweise erst nach 1-2 Seiten erfahren hat, um wen es denn jetzt geht, da vorher nur "er" oder "sie" genannt wurde. Eindeutig war es nicht immer.
Innerhalb des ganzen Buches entstehen immer wieder Fragen. Nicht nur durch die Erzählweise, auch inhaltlich gibt es einige Schwachstellen. Wie schon beschrieben, ist mir die Figur der Katharina zu wenig ausgearbeitet, aber auch viele Nebencharaktere werden nicht ausreichend eingeführt.
Manchmal hat man das Gefühl, dass Inhalte fehlen, weil zu viele Lücken in der Geschichte auftauchen. So ist beispielsweise die Schuld, die Erich mit sich trägt, nicht nachvollziehbar beschrieben, die tiefe "Freundschaft", die er aus seiner Sicht zerstört hat, erschließt sich mir nicht. Die Erzählungen aus der Vergangenheit mit diesem "Freund" gehen nur so weit, dass sie gemeinsam monatelang durch die Wälder Sibiriens gewandert sind, ohne auch nur ein Wort miteinander zu sprechen.
Nach und nach setzt sich zwar alles zusammen, aber einen richtigen Abschluss gibt es für mich nicht, das Ende kommt auch irgendwie viel zu schnell.
Insgesamt ist es dennoch ein Buch, das mich aufgrund der Erzählweise, der ausgewählten Worte und vor allem der Hauptfigur Erich berührt hat. Der Titel wirkt erstmal sehr ausgefallen, jedoch wird im Verlauf aufgeklärt, was es mit den "betrunkenen Bäumen" auf sich hat. Die Geschichte hat sehr viel Potential, das meiner Meinung nach leider nicht ganz ausgeschöpft wurde. Sie hätte ruhig 100 Seiten länger sein können, um die vielen Lücken zu schließen.