Tragödien und Bewährungsproben
„Kashmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint“ resümiert der Journalist und habilitierte Orientalist Navid Kermani 2007 nach einer Reise in das himmlische Tal im Himalaya, „dessen“, und ...
„Kashmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint“ resümiert der Journalist und habilitierte Orientalist Navid Kermani 2007 nach einer Reise in das himmlische Tal im Himalaya, „dessen“, und auch hier zitiere ich Kermani, „Gletscher, Seen und Wiesen leider nicht nur die Dichter und Reisenden verzückten“, steht es doch seit dem 14. Jahrhundert unter fremden Herrschern, die es eroberten, ausbeuteten und gern auch verschacherten.
Wie wahr das ist, erfährt der Leser der auf sieben Bände angelegten Kashmir-Saga, dessen fünfter hier zu besprechen ist, vom ersten Band an. Denn da begegnen uns gleich zwei Extreme: da ist die paradiesische Idylle, die der ehemalige Elitesoldat Vikram Sandeep, dessen Ruf nicht nur durch das unruhige Tal am Dach der Welt wie Donnerhall klingt, mit seinem Dar-as-Salam, dem Haus des Friedens, Heimat für eine Gruppe von Waisenkindern, geschaffen hat, für die er und seine Frau, die Traumatherapeutin Sameera, an Eltern statt verantwortlich sind. Sehr bald aber wird der Leser gewahr, dass diese Idylle nur vordergründig ist, denn die Protagonisten bewegen sich fortwährend auf einem Pulverfass, vor dem Hintergrund von Gewalt, Korruption, Mord und Unmenschlichkeit, die traurige Realität sind in dem geschundenen Kashmir, Land zwischen den Mächten und Spielball der Mächtigen, mit der Vikram, der alte, nur scheinbar gebändigte Löwe, sowie sein Freund Raja aus Pune in Indien, den er Bruder nennt, und beider Familien immer wieder auf so unliebsame wie auch lebensgefährliche Art und Weise konfrontiert werden.
In jedem einzelnen der Bände treffen wir auf böse Buben, oft Politiker oder solche, die in staatlichen Ämtern eine wichtige Position einnehmen, die sie scham- und gewissenlos zu ihrem eigenen Vorteil oder zur Verfolgung und Beseitigung ihnen unliebsamer Personen nutzen. Man bekommt schnell den Eindruck, dass, Kashmir und Indien – und, verfolgt man denn das Weltgeschehen aufmerksam, natürlich nicht nur diese beiden Länder, die Schauplatz der Romane aus der Feder der Autorinnen Simone Dorra und Ingrid Zellner sind – von besagten Typen nur so wimmeln, dass man niemandem wirklich trauen und schon gar nicht auf Gerechtigkeit bauen kann; denn entweder gelten Gesetze, die die Menschenrechte und ihre unterschiedlichen Aspekte schützen, nur in ganz bestimmten Gebieten oder sie sind so vage abgefasst, dass sie Auslegungssache sind und man, ist man denn gezwungen, sich auf eines dieser Gesetze zu berufen, schon großes Glück haben muss wie auch einen langen Atem, gepaart mit guten Beziehungen zu solchen Personen, die über einen gewissen Einfluss verfügen, um seine Rechte gewahrt zu wissen.
Das in Kashmir nicht eigentlich vorhandene Gesetz gegen Kindesmissbrauch – und hier komme ich nun explizit zu dem fünften Band, „Ein Lied in der Nacht“, ist so ein himmelschreiendes Beispiel! Da kommt einem schon der Verdacht, dass die da oben, die anscheinend nicht zu trennen sind von denen, die sich des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht haben, schon vorsorglich sicherstellen, dass gewissen verachtenswerten Neigungen ungestraft nachgegangen werden darf! Sollte sich jemand daran stören, wird er bedroht oder gleich beseitigt!
Moussa, Pflegesohn der Sandeeps und selbst traumatisiertes Missbrauchsopfer, bringt das ins Rollen, was im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht: er erkennt durch Zufall einen seiner Peiniger, einen ambitionierten Politiker, und sowohl Vikram als auch Raja Sharma, der den Jungen liebt, als sei er der eigene Sohn, geben ihm das Versprechen, den Vergewaltiger zur Verantwortung zu ziehen, was der Beginn so spannender und temporeicher wie gefährlicher und emotional aufrührender Ermittlungen ist, von denen der erfahrene Kämpfer Vikram nur zu gut weiß, dass sie mit äußerster Vorsicht angegangen werden müssen, um nicht den Zorn und die Rache der mächtigen Schuldigen auf sich selbst und damit die Bewohner des Dar-as-Salam, seine Familie, zu ziehen.
Darüber hinaus entwickeln sich die Nachforschungen unerwarteterweise zu der schwersten Bewährungsprobe bisher für die tiefe Freundschaft zwischen dem alten Elitesoldaten und dem leiderprobten Raja, der 25 Jahre seines Lebens unschuldig im Gefängnis verbracht hatte, einer Freundschaft, wie sie schöner nicht sein, wie sie anrührender und herzerwärmender nicht beschrieben werden kann als von den Autorinnen, zwei wahrlich begnadeten Geschichtenerzählerinnen! Eine Freundschaft für die Ewigkeit? Nichts ist ewig – und daran erinnern uns Simone Dorra und Ingrid Zellner auch im vorliegenden Band immer wieder aufs Neue. Sie fabulieren Tragödien, die gerade dann in das Leben der Protagonisten hereinbrechen, wenn diese rundum glücklich sind, sich in relativer Sicherheit mitten in einer unsicheren Welt wähnen, stellen vor schier unüberwindbare Herausforderungen, breiten ein Tal der Tränen vor ihnen und gleichzeitig den erschütterten Lesern aus, durch die sie ihre liebenswerten Charaktere jedoch mit sicherer Hand leiten, aus denen sie sie mit Narben und Brüchen, aber dennoch mit dem Mut und dem Willen zum Weiterleben wieder hervortreten lassen, dünnhäutiger, gewiss, aber durch eigenes Leid noch menschlicher, gütiger, achtsamer, dankbarer für all das Gute, das ihnen vom Leben zum Geschenk gemacht wurde.
Von Band zu Band lernt der Leser die Hauptfiguren besser kennen, entdeckt er bislang nicht augenfällig gewesene Facetten, mit denen die Autorinnen sie ausgestattet haben, erschrickt darüber, wie das immer geschehen kann, wenn man tiefer hineinblickt in einen Menschen, lässt dieser es denn zu und ist man gewillt, sich auch mit den verborgenen Schattenseiten eines bis dahin verehrten Helden auseinanderzusetzen. Und Auseinandersetzung ist immer auch eine Annäherung, lässt die Möglichkeit des Verstehens und damit der Vergebung offen, die für mich eine der wesentlichen Botschaften in diesem mich außerordentlich bewegenden Roman ist, in dem ich rein gar nichts vermisse, was ich mir – in Kenntnis der Vorgängerbände – von ihm versprochen habe und in dem die beiden Autorinnen einmal mehr ihr Füllhorn an erzählerischen Fähigkeiten, am Schaffen emotional bewegendster Momente und nervenzerreißender Spannung über die Leser ausgießen. Das ist perfekte Unterhaltung, ganz gewiss nicht weniger als das!