Trennende, unsichtbare Mauern
„Einfacher war es, alles zu verstecken, was anders war. Deshalb versteckte ich meine Eltern, meine alte Sprache. Ich ahnte, dass ich mich selbst betrog.“ S. 62
In zwölf Episoden entfaltet Anna Prizkau ...
„Einfacher war es, alles zu verstecken, was anders war. Deshalb versteckte ich meine Eltern, meine alte Sprache. Ich ahnte, dass ich mich selbst betrog.“ S. 62
In zwölf Episoden entfaltet Anna Prizkau ein zusammenhängendes Leporello über das schambehaftete Gefühl, sich immer fremd zu fühlen – egal, wie sich die Protagonistin auch anstrengt, ihr altes Land, ihre alte Sprache zu verstecken und hinter sich zu lassen.
Die namenlose Ich-Erzählerin ist Tochter russischstämmiger Einwanderer und möchte unbedingt in Deutschland ‚dazugehören’ – doch sie stößt auf Widerstand, Anfeindung und Ignoranz, teils subtil, teils offensiv. Prizkau entwirft dabei eindringliche, aber keine aufdringlichen Kurzgeschichten, die nicht chronologisch angeordnet ein beklemmendes Bild von dem Heranwachsen der Erzählerin zeichnen: Schulzeit, Studium, Arbeitsamt, erste Berufserfahrungen, Familienbesuche im alten und neuen Land, Freundschaften, erste Beziehungen. Manches wirkt wie aus Erinnerungen zusammengewürfelt und bringt auch die naive Sicht eines Kindes mit ins Spiel – was umso beklemmender nachhallt.
Beobachtet die Autorin ihre Charaktere zwar recht distanziert aus der Ferne, gibt sie dennoch eine präzise Innenansicht von Einwanderungsland, Menschen und kulturellen Unterschieden ab. Feine, subtile Sprachbilder wechseln mit der Härte des Nichtankommens und der Herabwürdigung. Die psychische Krankheit der Mutter nach der Einwanderung hängt wie ein Damoklesschwert über den Erzählungen, in denen die Protagonistin mit allen Mitteln versucht, ihre Eltern und Herkunft zu verschweigen. Doch nicht nur sie spielt Verstecken – auch so manche Mitmenschen tun dies, indem sie alte Naziverstrickungen der Familie, Essstörungen oder auch ihre Herkunft verleugnen – letztere werden von der Erzählerin nicht geschätzt, spiegeln sie doch ihr eigenes Verhalten wider. Und so enttarnt Prizkau sehr gekonnt menschliche Grundmuster, eingebettet in zwölf atmosphärischen, traurigschönen Erzählungen, die sich am Ende zu einem dichten Episodenroman zusammenfügen. Auch durch den Kniff, nicht alles auszuerzählen und eher eine knappe Sprache zu verwenden: Das Schöne und Wesentliche schwelt im Ungeschriebenen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die Erzählungen universell für jede Einwanderergruppe aus jedem „alten Land“ stehen kann und verschiedene Milieus anspricht.
Auf trennende, unsichtbare Grenzen der Zurückweisung und des Fremdseins stößt die Protagonistin im „neuen Land“ immer wieder – und doch wirkt sie sehr kraftvoll, was dem Buch eine große Hoffnung zwischen all der Traurigkeit und Verlorenheit verleiht.
Ein wichtiges, poetisches und melancholisches Werk – ohne Sentimentalität und Ausschmücken, aber mit großer Wucht.