Auf dem Rad zur Freiheit
Alfonsina Strada, Protagonistin der Romanbiographie von Simona Baldelli, ist eine Radsport-Pionierin, der es gegen widrigste Umstände gelingt, ihren Traum zu verwirklichen. In ärmste Verhältnisse hineingeboren, ...
Alfonsina Strada, Protagonistin der Romanbiographie von Simona Baldelli, ist eine Radsport-Pionierin, der es gegen widrigste Umstände gelingt, ihren Traum zu verwirklichen. In ärmste Verhältnisse hineingeboren, aufgewachsen in einer Zeit, in der Frauen noch kaum über Unabhängigkeit verfügten, bringt Alfonsina sich selbst das Radfahren bei, entdeckt ihre Leidenschaft für den Sport und fährt so der Freiheit entgegen.
Weder die Autorin Simona Baldelli noch Alfonsina Strada sagten mir vor der Lektüre des Romans etwas – eins ist nun aber klar: beide Frauen werde ich so schnell nicht vergessen, denn der Roman hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich habe ein Faible für Romane, die auf wahren Begebenheiten und realen Personen basieren, bin aber stets sehr kritisch, weil die Einbindung von historischen Figuren manchmal auch ziemlich schiefgehen und dann sehr gewollt und künstlich wirken kann. Wenn, wie hier, die Persönlichkeit eher unbekannt ist, empfinde ich Romanbiographien als sehr begeisternd, vor allem auch weil man viel Neues lernen kann.
Simona Baldellis Blick auf Alfonsina ist ein feministischer, der deutlich die Widrigkeiten, Hindernisse, Limitierungen in einem Frauenleben im Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Angesichts all der Anfeindungen, denen sich die Protagonistin ausgesetzt sieht, ist es äußerst bemerkenswert, dass sie unbeirrt ihren Weg verfolgt und sich nicht mit der von ihren Eltern angestrebten Zukunft als Näherin zufriedengibt. Positiv hervorzuheben ist, dass Baldellis Darstellung der Diskriminierungen durchaus nuanciert erfolgt. Es gibt keine einseitige Demütigung ausschließlich durch Männer, vielmehr sind es ebenso zahlreiche Frauen, die Alfonsina das Leben schwer machen, zugleich erhält sie von vielen Männern sehr viel Unterstützung und Zuspruch.
Die Figurenzeichnung ist sehr lebendig und mitreißend. Alfonsina wird detailliert ausgeleuchtet und steht klar im Mittelpunkt ihrer Geschichte. Dieser Fokus geht leider etwas zu Lasten der Nebenfiguren, hier hätte ich mir zeitweise doch etwas mehr Tiefe und Erzählzeit gewünscht. Beispielhaft ist für mich die Episode, in der Alfonsina einen längeren Zeitraum intensiv mit ihrer Mutter verbringt. Diese Passage ist für den Roman sehr bereichernd und schenkt der menschlichen Seite Alfonsinas Feinheiten, die aus dem Sportlerinnenleben so nicht ersichtlich sind. Speziell in Bezug auf die Ehemänner greift der Roman in der Figurenzeichnung viel zu kurz. Während der erste Mann zumindest noch zu Beginn seine kindlich-infantile Unterstützerrolle spielen darf, wird der zweite fast völlig ausgespart. Selbst wenn dies eine bewusste erzählerisch Entscheidung war, damit Alfonsina nicht das Rampenlicht teilen muss, hat mir dies nicht behagt. Man sollte auch für einen feministischen Blick nicht alle Männer komplett wegschreiben. Schwierig ist für mich auch die esoterische Zusatzkomponente, die Baldelli einbaut. Alfonsina erscheinen in Krisensituationen immer tote Seelen, die sie motivieren, anklagen etc. Etwas dosierter und ohne die prominente Beteiligung der russischen Zarenfamilie hätte ich gut damit leben können, so war es mir einfach zu viel.
Der Romanaufbau ist insgesamt sehr gelungen und sorgt für viel Abwechslung, allerdings sind die Zeitebenen und -sprünge manchmal etwas verwirrend. So spielt der Roman zu einem Großteil in den 1920ern; es gibt aber auch Passagen, die mit 1959 überschrieben sind, und kursiv gedruckte Kapitel, die im Jahr 2017 angesiedelt sind. Da aber die 1959er-Episoden ebenfalls immer in die 20er-40er zurückspringen und dies nicht unbedingt chronologisch an die vorangegangen, historischen Kapitel anschließend, gerät man als Leser schon mal aus dem Takt.
Erzählerisch ist der Roman unglaublich mitreißend, inspirierend und faszinierend. Obwohl ich selbst nicht sonderlich am Radsport interessiert bin, haben mich die Beschreibungen der Radrennen, vor allem des Giro d’Italia begeistert (hier hätte ich eine Karte im Anhang ganz schön gefunden). Die Autorin schafft es, die Facetten und die Landschaften eines solchen Rennens vor dem inneren Auge erstehen zu lassen.
Trotz der genannten Kritikpunkte bin ich wirklich sehr glücklich und zufrieden mit dem Roman, der mich auf vielen Ebenen sehr begeistert hat und noch immer beschäftigt. Dieser Roman ist für alle eine Leseempfehlung, die starke Frauenfiguren, biographisch inspirierte Texte und die 1920er Jahre mögen. Wie in Maria Peters „Die Dirigentin“ wird hier einer unbekannteren Frau ein Denkmal gesetzt, dass auf die durchaus schmerzhaften Einzelschicksale von Frauen verweist, die in ihrer Gesamtheit aber die Frauenbewegung ein Stück weit vorangebracht haben.