Nach dem Lesen der Inhaltsangabe zu Reinhard Gnettners Erstlingswerk „Nur der Tod ist unsterblich“, über dessen Titel man durchaus sinnieren kann, stellte ich mir zwei Fragen. Die erste lautete, etwas verwundert: Ja sind die fünf Literaturgrößen, die die Hauptrollen in dem Roman spielen, nicht schon unsterblich – zu Lebzeiten und dann erst recht nach ihrem Tod? Und die zweite Frage war die nach der Auswahl gerade dieser, Stefan Zweig, Erich Fried, Leo Perutz, Friedrich Torberg und Heimito von Doderer – mir wären noch mehr „Unsterbliche“ ihres Formats eingefallen... Was also waren die Kriterien, besagte fünf Persönlichkeiten durch einen „mörderischen Literaturkrimi“ mit noch einem Hauch mehr dieses eigentlich paradoxen Adjektivs auszuzeichnen?
Liest man sich durch den hochinteressanten und genau so hoch zu lobenden Anhang, der nicht nur ihre vielen Originalzitate, mit denen, teilweise in leicht abgewandelter Form, der Autor seine Geschichte an- und unendlich bereichert, nachweist, sondern auch aussagekräftige Kurzbiographien der von ihm erkorenen Meister des geschriebenen Wortes beisteuert, fällt alsbald auf, dass die fünf Herren samt und sonders in irgendeiner Weise mit dem 9. Wiener Gemeindebezirk Alsergrund in Verbindung stehen (was gleichzeitig die Erklärung ist, warum etwa der von mir verehrte gebrochene Charakter eines Joseph Roth, einer der größten Wiener, obwohl ursprünglich nicht aus der Stadt an der Donau stammend, hier nicht mittung durfte, wiewohl er genau gepasst hätte in all seiner ewigen Traurigkeit und Skurrilität gleichzeitig).
Und dann die Unsterblichkeit, die ich unseren wackeren Protagonisten wie selbstverständlich attribuiert hatte – ja, die stimmt heute auch nicht mehr wirklich, wie eines der Mitglieder der Altherren-WG, die sie flugs gründeten, in eben jenem Alsergrund selbstredend, anhand von den immer geringer werdenden Verkaufszahlen ihrer jeweiligen Werke demonstrierte! Unsterblich sind eben nur diejenigen, die bleibende und ergo erinnerte Spuren hinterlassen haben. Und in Vergessenheit zu geraten, bedeutet im Umkehrschluss, dass auch eine vormalige Unsterblichkeit zurückgenommen und wieder sterblich werden kann...
Dagegen aber wollen die munteren Herren, inzwischen jenseits der Hundert, vorgehen! Jeder von ihnen beabsichtigt, ein Opus Magnum zu verfassen, eines, das sie aus den bodenlosen Tiefen der Vergessenheit herausholt und ihre Unsterblichkeit auch für die Nachgeborenen zementiert. Und wo kann man diese Krönung ihres literarischen Schaffens wohl ersinnen und zu Papier bringen? Richtig, dort wo ihnen schon immer die kreativsten Ideen kamen – im Caféhaus! Nur leider wurden auch diese, die echten, die, die eine so lange Tradition nicht nur in Wien hatten, von der unbarmherzig voranschreitenden Zeit verwässert, verdrängt oder ganz und gar verschluckt. Doch, wie gesagt, die äußerlich gebrechlichen, aber geistig sehr agilen Herren sind findig wie eh und je. Sie gründen ihre Altherren-WG, errichten als deren Mittelpunkt ihr eigenes Caféhaus und engagieren der zerbrechlichen Gesundheit und dem daraus resultierenden erhöhten Pflegebedarf wegen die patente Ella – Haushälterin, Managerin, Pflegerin und stets anteilnehmende Zuhörerin und Gesprächspartnerin in Personalunion. Und nachdem alles gemäß ihren Wünschen und Bedürfnissen geordnet wurde, könnten sie eigentlich loslegen mit ihrem Opus Magnum, nicht wahr? Und damit endgültig den Literatenolymp erklimmen? Leider, aber wie das im Leben nun einmal so ist, stellen sich nicht vorhergesehene Schwierigkeiten ein, wie der Leser bald konstatieren wird, nicht überraschend, möchte man meinen, wenn man das Alter unserer Protagonisten betrachtet. Und dann – der Klappentext verrät es uns – stirbt einer nach dem anderen und, ehe sie es sich versieht, ist das reizende, auch schon etwas angejahrte Fräulein Ella (kann man einen entzückenderen, liebenswerteren Charakter erfinden?) zum Ziel der polizeilichen Ermittlungen und im Nu zur Hauptverdächtigen geworden!
Doch noch ist nicht aller Tage Abend, denn die verblichenen Literaten haben schließlich auch noch ein – posthumes – Wörtchen mitzureden. Und damit retten sie nicht nur ihr dienstbares Fräulein sondern verschaffen sich am Schluss, wie der Leser mit größter Befriedigung sicher vermuten darf, mit einem besonderen, einem so originellen und genialen wie naheliegenden Coup die Eintrittskarten zum Götterhimmel!
Mit enormem Vergnügen habe ich den ungewöhnlichen, in sprachlich wunderbarem, liebenswürdig altmodisch anmutendem Diktus abgefassten Roman gelesen, mich gefreut über die nach meiner Einschätzung, weil durchaus vertraut mit den Schriftstellern Zweig, Perutz, von Doderer, Torberg und Fried – mit letzterem ganz besonders – und ihren Werken, sehr treffenden Charakterisierungen der „Unsterblichen“, und immer wieder habe ich gelächelt über die liebevolle Art und Weise, mit der der Autor ihnen ihre kleineren und manchmal größeren Macken gelassen, ja sie sogar damit geschmückt hat. Er kennt und versteht sie gut, die fünf Wiener!
Grandios auch die Wahl der Todesarten, mittels derer er sie im Roman ins Jenseits befördert hat, jeder einzelne Tod ist ganz speziell auf den, der ihn jeweils erleidet, zugeschnitten – und ich ertappe mich bei dem Wunsch, unsere fünf so einnehmend wie skurril geschilderten und agierenden Protagonisten hätten auf genau diese Weise auch im wahren Leben ihr irdisches Dasein beenden können. Ja, sie sind mir sehr nahe gekommen, die höflichen und gleichzeitig so eigenen und eigenwilligen, kämpferischen und immer wieder auch mutlosen Herren aus einer längst vergangenen Epoche, samt ihrem Fräulein Ella, das endlich leben und nicht nur mehr dienen möchte und doch nicht gegen ihre Natur ankommt, samt dem unaussprechlichen und natürlich stark überzeichneten (was ihnen dann schon wieder einen gewissen Charme verleiht) Hausbesitzerpaar Zihal, das die lauten, sich streitenden, manchmal auch mit Gegenständen um sich werfenden Alten nur zu gerne aus der großen Caféhaus-Wohnung geekelt hätte, und samt auch dem gutmütig-höflichen, aber überforderten, kurz vor der Pensionierung stehenden Kommissar, der die Schlag auf Schlag aufeinanderfolgenden Todesfälle – oder waren es etwa doch Morde? - in der Altherren-WG zu untersuchen hat.
Abschließend mein Kompliment an den Autor und gleichzeitig Dank für die so kurzweiligen wie anregenden Lesestunden, die er mir mit diesem Buch ohne Fehl und Tadel beschert hat. Auf dass die Herren aus dem Alsergrund ein wohlverdientes Revival erleben dürfen - und ihre Unsterblichkeit behalten mögen!