Liebe Daffy,
Fall gelöst. Wohlgemerkt: der allererste Fall ist gelöst. Ich habe gerade dem jungen Sherlock Holmes assistiert und darf verkünden, das wird einmal der großartigste Detektiv aller Zeiten. Wie kam es dazu, fragst du dich? Ganz einfach. Dank Andrew Lanes Young Sherlock Holmes. Der Tod liegt in der Luft konnte ich dem Spektakel hautnah beiwohnen. Eine 2012 bei Fischer FJB erschienene Geschichte, in der wir in eine Zeit eintauchen, die noch vor den Erzählungen von Sir Arthur Conan Doyle angesiedelt ist. Warum? Conan Doyle präsentierte uns einen erwachsenen Holmes. Doch wie wurde dieser überhaupt ein genialer, der Logik verschriebener Detektiv? Dieser Frage widmete sich Andrew Lane in seiner Reihe um den jungen Sherlock Holmes. Im Original erschien der erste Teil 2010 und mir liegt hier die deutsche Übersetzung von Christian Dreller vor.
Sherlock Holmes besucht ein Internat, die Deepdene-Knabenschule, doch die Sommerferien stehen vor der Tür. Diese soll Sherlock bei Verwandten in Farnham verbringen. Gar nicht nach seinem Geschmack. Allein in einem großen Haus, nur eine anstrengende Haushälterin, die ihm vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat, die Familie sieht er nur bei den Mahlzeiten. Doch all das ändert sich, als Sherlock bei seinen Spaziergängen einen Jungen kennen lernt und schließlich auf Geheiß von Mycroft ein Privatlehrer auftaucht. Zwischen Ausflügen mit Matty und den Unterrichtsstunden mit Amyus Crowe beginnt eine spannende Zeit. Als sie eines Tages einen Toten finden, von dem sich eine geheimnisvolle Wolke wegzubewegen scheint, ist bei allen das Interesse geweckt und Unterricht und Ausflüge verknüpfen sich zu Sherlock Holmes' allererstem Fall.
Wie kann es anders sein, dass sich diese Geschichte gar nicht so einfach zusammenfassen lässt. Ich möchte dir nicht zu viel verraten, dich aber trotzdem neugierig machen. Mir fällt aber auf, der Klappentext ist genauso kryptisch wie mein Versuch, was mich zu dem Punkt kommen lässt, dass Sherlock Holmes' Geschichten immer ihre ganz eigene Stimmung mit sich bringen. Egal, ob das Original von Conan Doyle oder andere Jugendbücher, die sich rund um das Thema aufhalten, es ist eine nicht zu beschreibende Art, die Geschichten zu erzählen. Ich habe jedes Mal große Probleme, die Geschehnisse wirklich vor meinem inneren Auge zu sehen, was das Lesen anstrengend macht, mich aber trotzdem absolut fasziniert. Auch hier hatte ich wieder Schwierigkeiten, einen Draht direkt in die Geschichte und zu den Figuren zu finden. Der Fall erinnerte mich auf eine eigene Art an eine Mischung aus Eine Studie in Scharlachrot und Das gesprenkelte Band.
Hast du dich je gefragt, wie Sherlock Holmes überhaupt zu dem werden konnte, der er ist? Bis zu diesem Buch habe ich es wohl nie hinterfragt und mich stets mit einem erwachsenen Holmes identifiziert und ihn bewundert. Doch natürlich gehört eine Kindheit zu jedem von uns, deshalb war es sehr interessant, diese Interpretation eines „Was könnte gewesen sein...?“ zu lesen. Sehr gelungen ist Lane die Entwicklung des jungen Detektivs, der zu Beginn einfach ein Schuljunge ist, der sein Pensum sehr gut, aber dem Schulanspruch entsprechend erfüllt. Er ist noch kein hochgebildeter Mann, der sämtliche Zusammenhänge direkt knüpfen kann. Sherlock ist als Kind ein anderer, als der Holmes, den uns Doyle präsentiert. Ein Junge, der noch unsicher ist. Das kollidierte teilweise mit einigen meiner Vorstellungen eines erhabenen Detektivs. Nichtsdestotrotz, hat Andrew Lane eine logische Figur erschaffen, die sich dahin entwickeln kann, was wir kennen und lieben.
Andrew Lanes Sherlock ist wissbegierig und saugt all das Wissen auf, das ihm der Privatlehrer zur Verfügung stellt. Auch sein neuer Freund Matty bringt ihm einiges bei, was Sherlock immer besser anzuwenden lernt und daraus logische Schlüsse zieht. Das hat mir sehr gut gefallen.
Auch die Darstellung Englands im 19. Jahrhundert ist sicherlich einigen Recherchen des Autors zu verdanken. Es wir keine Verklärte, romantische Darstellung geliefert, sondern eine Gegenüberstellung von arm und reich, Gesellschaft und Moral; natürlich kollidiert das mit der Auffassung des 21. Jahrhunderts.
Hoch interessant finde ich die Wahl Lanes, die LeserInnen neben Sherlock zu platzieren und seine Gedankengänge sichtbar zu machen und die LeserInnen das erleben zu lassen, was Sherlock erlebt. Von Conan Doyle sind wir es gewohnt, den Detektiv rein aus der Sicht von Dr. Watson kennen zu lernen. Auch in den anderen Jugendbüchern My dear Sherlock und Holmes & Ich, die ich bisher gelesen habe, sind wir nie an der Person Sherlock Holmes bzw. Charlotte Holmes dran, wir erleben sie stets durch andere.
Obwohl ich große Schwierigkeiten hatte, zur Gänze in das Buch einzutauchen und mir einige Details nicht zugesagt haben, hatte ich einen interessanten Moment beim Zuschlagen des Buches. Das letzte Kapitel endete so, das ich nicht ganz zufrieden war, weshalb ich dran blieb und die Danksagung und das Nachwort las. Und da kam eine Wendung um 180°. Ich habe noch nie eine so großartige Danksagung von einer Autorin oder einem Autor gelesen. Informativ, bescheiden, auf den Punkt gebracht. Ich kann mit Gewissheit sagen, das mich ein Nachwort noch nie die Meinung über eine Geschichte hat ändern lassen – hier war es so. Die Intention hinter dem Buch ist so genial, das ich es nur empfehlen kann. Wenn du schwächelst und keine Lust mehr hast: Bleib dran. Ich habe dieses Buch über zwei Jahre verteilt gelesen, weil ich nicht rein gekommen bin. Im Nachwort wird einiges verraten, von daher rate ich dringend davon ab, nur das zu lesen. Aber mit der Geschichte im Kopf, hat es absolut etwas mit mir gemacht und ich stelle dieses Buch nun mit einem guten Gefühl in mein Sherlock Holmes Regal, denn es hat seine Daseinsberechtigung.
Deine Daisy