Verpasste Liebe und Treffen
Auf gerade mal 144 Seiten packt die Autorin und auktoriale Erzählerin Éliette Abécassis eine gescheiterte Möglichkeit der großen Liebe, zwei Leben und ihre Verläufe sowie gesprenkelte zeithistorische Bezüge ...
Auf gerade mal 144 Seiten packt die Autorin und auktoriale Erzählerin Éliette Abécassis eine gescheiterte Möglichkeit der großen Liebe, zwei Leben und ihre Verläufe sowie gesprenkelte zeithistorische Bezüge aus 30 Jahren rein. Das ist knapp bemessen und doch funktioniert dieser feinfühlige und rasante Zeitraffer mit dem Charme zwischen „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und „Before Sunrise“ auf seine eigene Weise, da Abécassis feine philosophische Anspielungen zwischen den Zeilen verstreut.
Amélie und Vincent studieren beide an der Sorbonne in Paris, begegnen sich zufällig auf dem Gang, finden sich sympathisch, es funkt, sie plaudern die halbe Nacht und beschließen ein Treffen am nächsten Tag – doch sie verpassen sich und so soll es auch noch die nächsten Jahrzehnte geschehen, obwohl keiner den anderen so richtig aus dem Kopf bekommt. Beide werden heiraten, unglücklich in ihren Beziehungen sein, Kinder bekommen, sich scheiden lassen und sich alle Jahrzehnte treffen, um sich etwas aus ihrem Leben zu erzählen – und sich wieder zu verpassen, denn beiden fehlt der Mut, sich ihre Liebe zu gestehen und denken, der andere ist in seinem Leben glücklich. Beide sind verstrickt in Muster und Glaubenssätzen, die aus der Erziehung herrühren, aber auch in Wertevorstellungen, was die Gesellschaft vorgibt: Heirat, Kinder, Erfolg im Beruf. Dabei begraben sie mehr und mehr ihre Träume und Gefühle, für die sie mal gebrannt haben.
„Die Hälfte der Fehler, die wir im Leben begehen, sind überstürztem Handeln geschuldet, die andere Hälfte fehlendem Tatendrang.“ S. 38
Wie frei können wir im Leben entscheiden und wie hätte mein Leben mit einem anderen Partner ausgesehen? Was für Möglichkeiten und Chancen habe ich vorbeiziehen lassen aus Ängsten oder anderen Beweggründen? Mit viel Pariser Charme und Lokalkolorit sowie einem klugen und wendungsreichen Schreibstil, der kurz und prägnant nicht nur in die aktuellen Leben der Protagonisten eintaucht, sondern auch das Außenherum und gesellschaftliche Entwicklungen beleuchtet, nimmt uns Abécassis träumerisch und nostalgisch mit auf eine universelle Gefühlsreise der Liebe in all ihren komplexen Facetten, durch die vielen Abzweigungen und Korridore der Entscheidungen, um dann zu fragen: Wäre es wirklich so viel besser mit einer anderen Liebe gelaufen oder ist es nur träumerische Projektion?
„Das Schicksal entsteht, so scheint es, aus einer Kurzschlusshandlung, einem winzigen Detail, das uns in diese oder jene Richtung abbiegen lässt. Ein Würfelwurf, der vielleicht nicht den Zufall abschafft, aber letztlich doch alles bestimmt.“ S. 45
Hier und da gerät der schnell geraffte Plot und die Parallelleben von Vincent und Amélie in zuviel Gleichförmigkeit und schicksalshaften Ereignissen und das Ungesagte, Ungetane zwischen den Liebenden erscheint manchmal nicht logisch. Und so manche szenische Rahmenbeschreibung des jeweiligen Jahrzehnts mit seinen modernen Begleitern wie Handy, Facebook oder Netflix sowie dem Einzug von Terroranschlägen seit 9/11 wirken etwas gewollt und konstruiert auf so wenigen Seiten, zeigen jedoch subtil die gesellschaftlichen Wandlungen.
Insgesamt ein kurzweiliger, weiser und stilistisch feiner Roman über existenzielle Fragen der Liebe – die erlebte und die verpasste sowie über die Abzweigungen des Schicksals im Leben und unsere Möglichkeiten in diesem Labyrinth.
„Sie hatten es nicht begriffen. Sie hatten keinen Mut gehabt. Beide waren sie in ihre Erziehung verstrickt, waren gehemmt und befangen und wussten nicht Bescheid. Sie hatten keine Ahnung gehabt, dass das Leben immer die Oberhand gewinnt über die Bekannschaften und die Liebe, ob man will oder nicht, allmählich einem Schicksal entgegentreibt, das man nicht mehr im Griff hat, dass man Abzweigungen nimmt gleich Türen, die uns auf Gänge führen, Gänge, die zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang sind, dass wir oft einen Menschen heiraten, den wir nicht lieben, dass wir die Liebe unseres Lebens aus lauter Vorsicht, Pech oder Unachtsamkeit verpassen (…)“ S. 136