Der Schnee blieb jetzt schon auf der Motorhaube liegen. Sie unterbrachen die Radiosendung für eine Unwetterwarnung, und nach dem Sirenenton meldete sich Lester Hoffstead, der beliebteste Wettermann im Norden Michigans. Aufgeregt ratterte er die düsteren Prognosen herunter, die er von seinem Doppler-Radar ablas, bis ich mit einer heftigen Bewegung das Radio ausschaltete. Nichts für ungut, Lester, aber dass ein verdammter Blizzard unterwegs war, merkte ich selbst.
Ich stemmte die Tür auf und spürte den Ansturm der Kälte. Ich zog die Schnur meiner Kapuze zu und und lief los, suchte Deckung unter den Bäumen.
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INHALT:
Mal wieder ist die 16-jährige Percy auf der Suche nach ihrer drogensüchtigen Mutter. Seit diese sich wieder den Rauschmitteln zugewandt hat, ist die Schülerin so etwas wie die Erwachsene im Haus. Doch dieses Mal tobt ein Schneesturm, als sie sich auf die Suche begibt, was die Sache deutlich erschwert. Ihre erste Anlaufstelle ist der gefährliche Dealer Shelton, der nicht nur einen der Abstürze ihrer Mutter verursacht hat. Doch stattdessen findet Percy in seinem Haus ein halb erfrorenes Baby. Sie kann das kleine Mädchen nicht einfach dort liegen lassen, also nimmt sie es mit. Und wird fortan von Shelton durch Schnee und Eis gejagt, denn er scheint zu allem bereit.
MEINE MEINUNG:
Ein rauer, kalter Winter in Michigan und eine Suche, aus der eine Flucht wird, das sind die Ausgangspunkte von Travis Mulhausers Roman "Sweetgirl". Ein ehrlicher, schnörkelloser Roman um ein junges Mädchen, das viel zu früh erwachsen werden musste, und einen brutalen Kriminellen, der seine eigenen Taten auch noch für richtig hält. Abwechselnd wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Percy und der personalen Perspektive von Shelton erzählt. Der Stil wird in seinen Kapiteln deutlich einfacher und dreckiger, was die beiden Stimmen gut voneinander abgrenzt.
Percy ist eine absolut toughe Protagonistin: Früh hat sie lernen müssen, auf sich selbst und zusätzlich ihre Mutter aufzupassen, weshalb sie es sich nicht leisten kann, lange zu überlegen. Sie handelt sicherlich etwas überstürzt, aber sie ist auch erst 16 Jahre alt und zeigt dafür einiges an Mut und Weitsicht. Ihre intelligente, emphatische Art lässt sie nur noch sympathischer werden. Shelton wirkt anfangs wie im Klappentext angekündigt: Unterbelichtet und brutal nimmt er keine Rücksicht auf Verluste. Dass seine Lebensweise größtenteils damit zusammen hängt, dass er schon früh wegen seines Aussehens gehänselt wurde, wird erst später klar. Er macht zwar tatsächlich eine kleine Entwicklung durch, allerdings verbringt er trotzdem seine meiste Zeit mit Drogen, was bald ermüdet. Nebenfiguren gibt es nur wenige: Percys Mutter im Drogenrausch, die selten weiß wo sie ist, oder ihr Stiefvater in spe, der zwar Alkoholiker ist, aber ein gutes Herz besitzt. Sie unterstützen die Geschichte, haben aber nicht so einen großen Stellenwert wie Percy und Shelton.
Egal zu welcher Jahreszeit man den Roman liest, die Kälte Michigans, die verschneiten Berge und der eisige Wind greifen auf einen über. Die Beschreibungen sind realistisch, atmosphärisch und prägnant, manchmal aber auch regelrecht poetisch. Percys Flucht verläuft jedoch anders als ich mir das vorgestellt hatte: Der Feind ist weniger der bedrohliche Shelton als viel mehr der Winter, der sich ihr immer wieder in den Weg stellt. Das Ganze hätte mir deutlich besser gefallen ohne die Kapitel aus Sheltons Sicht, die bereits nach kurzer Zeit sehr eintönig wirkten. Er geht in den Wald, um das Kind zu suchen, atmet Lachgas ein, geht in seine Hütte zurück, raucht einen Joint, geht wieder raus, und so weiter und so fort. Teilweise sind die Geschehnisse durchaus skurril, vor allem die Art und Weise wie irgendwann Leichen den Weg säumen, aber witzig ist hier nichts. Schwarzer Humor hin oder her, es geht ums nackte Überleben, da kann man wenig lustig finden. Leider lässt die Spannung auf den letzten 50 Seiten enorm nach, weil das Ganze doch schneller vorbei ist als gedacht. Der Schluss stellt zufrieden, weil er einen positiven Ausblick gibt - aber irgendwie hatte ich mir mehr erwartet.
FAZIT:
Travis Mulhauser fängt die klirrende Kälte Michigans in "Sweetgirl" wunderbar ein, wodurch die Flucht durch die Berge noch dramatischer wird. Allerdings lässt die Spannung durch häufige Wiederholungen in den Kapiteln des Dealers immer wieder nach und das große Etwas fehlt. Für verschneite Winterabende (oder zur Abkühlung im Sommer) aber sicherlich das Richtige. Gute 3 Punkte.