Historisch sehr gut, Spannung verbesserungswürdig
REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans ...
REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans „Des Kummers Nacht“, des im August vom Lübbe Verlag veröffentlichten Romandebüts von Ralph Knobelsdorf (54). Es ist ein unterhaltsamer, historisch gut recherchierter und informativer Roman um den ersten Fall des vom Berliner Polizeidirektor für die kürzlich gegründete Kriminalpolizei angeworbenen Jura-Absolventen und Gutsbesitzerssohn Wilhelm von der Heyden in Berlin.
Wilhelm von der Heyden steht 1855 kurz vor dem juristischen Examen. Von seiner Berliner Studentenbude aus wird er Zeuge einer Explosion im Haus gegenüber. Eine junge österreichische Gräfin mit familiären Verbindungen in die Bukowina, dem Grenzgebiet zu Russland, wie sich später herausstellt, kommt dabei zu Tode. Bei der anschließenden Zeugenvernehmung ist Herford, Chef der Kriminalpolizei, von Wilhelms Beobachtungsgabe begeistert, der zuvor die Wohnung der Gräfin auf der Suche nach weiteren Opfern durchsucht hatte, und stellt ihn als polizeiliche Hilfskraft ein, da talentierte Mitarbeiter bei der Kripo dringend benötigt werden. Sein Talent wird umso wichtiger, entwickelt sich doch der Mordfall unerwartet zum Politikum, dessen Spuren in die höchsten Kreise bis an den Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Führen. Der kränkliche König kann kaum noch die Regierungsgeschäfte wahrnehmen, weshalb einflussreiche Kreise insgeheim schon seine Nachfolge vorbereiten. Zudem erschweren politische Interessen Preußens die Ermittlungsarbeit mitten im Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich.
„Fakt oder Fiktion? … Der historische Kriminalroman bewegt sich immer in einem Spannungsverhältnis von Dichtung und Wahrheit“, hat sich der Autor die Frage selbst im Nachwort beantwortet und damit das Problem seines Debütromans angesprochen. Knobelsdorf hat mit seinem Erstlingswerk einen ausgezeichneten historischen Roman vorgelegt, der die politische und gesellschaftliche Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus mehreren Blickrichtungen treffend und wirklich interessant schildert, so dass sich die Lektüre schon deshalb lohnt. Doch obwohl ein Kriminalfall als Handlungsfaden die verschiedenen historischen Fakten zu einer verständlichen Einheit verknüpft, fehlt es an Spannung, um ihn als Krimi durchgehen zu lassen. Allzu bald kommt man dem Täter auf die Spur, und auch der Abschluss des Falles ist etwas lieblos runtergeschrieben.
Doch lässt man diesen in folgenden Bänden auszumerzenden Kritikpunkt unberücksichtigt, ist „Des Kummers Nacht“ ein rundum empfehlenswerter historischer Roman. Knobelsdorf gelingt es hervorragend, mit fiktiven und im jeweiligen Charakter treffend skizzierten realen Personen wie dem preußischen Gesandten Otto v. Bismarck und dem russischen Botschafter v. Budberg, den Schriftstellerinnen Fanny Lewald und Gisela v. Arnim, den Hof-Günstlingen und Lobbyisten-Brüdern v. Gerlach oder auch dem ehrgeizigen Leiter der politischen Polizei Wilhelm Stieber eine überzeugend stimmige Szenerie zu schildern, wozu der wohlklingende Sprachstil des Autors mit der zu den historischen Persönlichkeiten passenden Dialog-Wortwahl beiträgt. Auch die Berliner Örtlichkeiten (Stadtvogtei, Charité mit Leichenschauhaus), die politischen Umstände (Krimkrieg, Bukowina, Königshof) und die auch nach der Revolution von 1848 noch herrschende Drei-Klassen-Gesellschaft (Adel, Bürgertum, Arbeiterschaft) lassen die Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin vor dem lesenden Auge lebendig werden.
Abschließend stellt Wilhelm von der Heyden fest, dass „sein erster Fall nicht zu seiner Zufriedenheit gelöst“ ist. Dieser Meinung kann man sich als Leser anschließen: So gut der historische Aspekt gelungen ist, muss an der für eine Krimireihe erforderlichen Spannung in den Folgebänden etwas nachgebessert werden. „Das Spiel ist noch lange nicht vorbei, Wilhelm. Es hat gerade erst so richtig begonnen“, heißt es am Schluss. Lassen wir uns also gern überraschen und auf den zweiten Band „Ein Fremder hier zu Lande“ freuen, der für Juli 2022 angekündigt ist.