Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg, es ist der Hungerwinter 1946/4. Eine tote Frau wird in den Trümmern gefunden, nackt, mit Strangulationsspuren. Polizei-Oberinspektor Frank Stave, er wird während der Ermittlungen 43 Jahre alt werden, wird mit der Aufklärung betraut. „Die Briten haben nach dem Einmarsch im Mai 1945 Hunderte Polizisten entlassen – jeden, der bei der Gestapo war, der hohe Funktionen hatte, der irgendwie politisch aufgefallen war. Leute wie Stave, die im alten Regime als „links“ galten und die man auf unbedeutenden Posten kaltgestellt hatte, sind geblieben.“ S. 11 Ihm zur Seite gestellt werden ein Kollege von der Sitte, Polizeiinspektor Lothar Maschke - schließlich war die Frau unbekleidet, sowie der britische Verbindungsoffizier Lieutenant James C. MacDonald - Hamburg ist britisch besetzte Zone.
Die Stadt ist von Flüchtlingen überschwemmt, displaced persons (DP) aus KZs, Flüchtlingen aus den früheren Ostgebieten, Kriegsheimkehrer, Versprengte, Ausgebombte, das erschwert die Suche nach der Identität des Opfers. Auch Stave lebt nun in einem Nachbarhaus, seit seine frühere Wohnung in der Ahrensburger Straße 91 zusammen mit seiner Frau den Bomben zum Opfer fiel; man kann die Häuser übrigens auf Google Maps sehen, die Beschreibung der Häuser entspricht der im Buch und die Lücke durch die Bomben besteht bis heute: https://www.google.de/maps/@53.5796157,10.1002102,3a,75y,128.02h,99.88t/data=!3m6!1e1!3m4!1sQ5RUCDVYeBsO3PGteJw86Q!2e0!7i13312!8i6656!6m1!1e1
Bald wird eine zweite Leiche gefunden, ein älterer Mann, auch er nackt, auch er stranguliert. Ein Serienmörder, ein Verrückter, ein mysteriöser Zusammenhang zwischen den immer noch namenlosen Opfern, zufällige Gemeinsamkeiten? Die Ermittlungen treten auf der Stelle, es gibt zunehmend Druck aus der Öffentlichkeit – regelmäßige Berichterstattung inklusive für Stave beim Leiter der Kripo, Carl „Cuddel“ Breuer https://de.wikipedia.org/wiki/CarlBreuer sowie beim Bürgermeister Max Brauer https://de.wikipedia.org/wiki/MaxBrauer, der klarmacht: „Ich aber werde nicht tatenlos zusehen, wie ein einziger verrückter Mörder eine Lage schafft, in der sich unsere Bürger nach den Nazis zurücksehnen.“ S. 222 Doch warum hat Stave das Gefühl, dass die Frau, Anna von Veckinhausen, die das zweite Opfer bei der Polizei gemeldet hat, etwas verschweigt? Er ist zunehmend fasziniert von seiner Zeugin und hat gleichzeitig Schuldgefühle, knapp 3 Jahre nach dem Tod seiner Frau und während er kein Lebenszeichen von seinem Sohn Karl hat, der sich mit 17 noch im April 1945 freiwillig gemeldet hatte. Dann wird der Ermittler wieder zu einem Tatort gerufen, ein Mann verschwindet und hinterlässt eine geheimnisvolle Botschaft und die Ermittlungsakten sind nirgends zu finden.
Stromsperren, Bezugsmarken, Hamsterfahrten ins Umland, Schwarzmarkt, Nissenhütten, Ausgangssperre, Brennhexen – all das kommt im Roman vor und bleibt dennoch, von der Wohnsituation und der Brennhexe abgesehen, für mich seltsam blutleer. Die Wohnsituation schildert Autor Rademacher plastischer, mit der Ausbombung, dem Ersatz von defektem aus kaputten Häusern, den vereisten Scheiben, den fensterlosen Wohnungen in früheren Hochbunkern, den Nissenhütten aus dünnem Wellblech, in denen man mittig am Ofen stehend von vorne glüht und hinten eiskalt bleibt. Ähnlich beschreibt er die mühselige Nahrungszubereitung auf der Brennhexe, der Rest bleibt für mich – leider – Kulisse, einzig Staves Albträume sind mit-erlebbar. Der Autor hat, wie man seinem Nachwort entnehmen kann, recherchiert, selbst der „Trümmermörder“ beruht auf einem historischen, wenn auch nie aufgeklärten Vorbild.
Der Vergleich mit dem erst im letzten Jahr veröffentlichten „Der Angstmann“ von Frank Goldammer drängt sich auf: Goldammer lässt den Leser den Krieg spüren, den Hunger, das Misstrauen, die Bombennacht, die Besatzung. Der historische Dresden-Krimi hat hier vielleicht den Vorteil, zeitlich einen größeren Zeitraum abzubilden – das ist es jedoch nicht. In Hamburg lese ich „..bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.“ S. 274 oder „…trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag.“ S. 99, das ist erstens eine Wiederholung über diese beiden Stellen hinaus und lässt mich zweitens den Wind nicht miterleben – Goldammer schafft das. Dafür ist bei Goldammer weniger nachvollziehbar, wie sich sein Max Heller in der NS-Zeit behaupten konnte, „seine Morde“ sind blutrünstiger. Ich kenne Dresden und Hamburg von sehr regelmäßigen Besuchen – beide Autoren nehmen in seltener Übereinkunft Abstand von Dialekt selbst bei Nebenfiguren. Da s-tolpert niemand über den s-pitzen S-tein, da gibt es kein „nu nu freiiilisch“, das ist verständlich (nachvollziehbar UND im Wortsinn), aber irgendwie schade. Straßennamen zählen beide auf – während Rademacher Gebäude beschreibt, fühle ich mich bei Goldammer in den Beschreibungen von Straßenzügen eher vor Ort (dafür sind es dann teils wieder zu viele Straßennamen). Ich mag Stave irgendwie lieber – doch sehe ich insgesamt nur 4 Sterne für einen durchschnittlich guten Krimi (gegenüber 5 für den Angstmann, den ich verschlungen hatte). Dennoch will ich dem zweiten Band eine Chance geben, weil mich das Thema der Nachkriegszeit dann doch ausreichend interessiert.
Wer eines der Bücher verschenken möchte: man merkt bei der Lektüre doch eindeutig (so man alt genug dafür ist), wo man aufgewachsen ist, als "Wessi" oder "Ossi", welche Erzählungen in der eigenen Familie weiter getragen wurden - selbst wenn man, wie ich, "dazwischen" steht. Und man merkt auch, wenn die Erinnerungen der eigenen Familie im ländlichen Raume angesiedelt waren, wo die Auswirkungen durch Selbstversorgung und "mehr Fläche pro Mensch" milder waren: hier sind Hamburg und Dresden dann doch erschreckend ähnlich.
https://www.lesejury.de/frank-goldammer/hoerbuecher/der-angstmann/9783862318308?tab=reviews&s=2#reviews