[Historischer Roman] Die Hafenschwester Band 1 – Melanie Metzenthin
Das Buch:
Ich durfte dieses Buch im Rahmen einer Leserunde lesen und bedanke mich an dieser Stelle sowohl beim Diana Verlag als auch bei Melanie Metzenthin für ihre Geduld und Zeit stets alle Fragen zu beantworten und uns einen Blick hinter die Kulissen ihrer Geschichte zu gewähren.
Das Buch ist ein Hingucker. Im Buchladen wäre es mir mit seinem roten Einband ganz bestimmt aufgefallen. Der Klappentext lädt ein mehr erfahren zu wollen und die Leseprobe nimmt einen sofort gefangen. Die Haptik des Buches ist wunderschön. Der erhabene Titel fühlt sich gut in der Hand an, während man das Buch liest und ich ertappte mich mehr als einmal dabei, wie ich versonnen darüber strich, während ich die Geschichte las.
Der Roman ist in 62 gut geplante Kapitel aufgeteilt, die nicht zu lang und nicht zu kurz sind und jeweils einen Teil der Geschichte erzählen. Er umfasst den Zeitraum von 1892 bis 1897 in Hamburg.
Worum geht’s?
Hamburg 1892 – die 14jährige Martha wächst in ärmlichsten Verhältnissen im Gängeviertel auf. Als die Cholera ausbricht, verliert sie zunächst ihre jüngere Schwester Anna und später ihre geliebte Mutter. Ihr Vater flüchtet sich in seiner Trauer in den Alkohol und wird für die Familie zur Belastung. Deshalb muss Martha viel zu schnell erwachsen werden um die Familie zu ernähren. Statt ihre Schule zu beenden, verdingt sie sich im Krankenhaus als Krankenwärterin. Schnell muss sie erkennen, dass Frauen keine Rechte haben und es immer Männer gibt, die dies ausnutzen. Es gibt aber auch Menschen, die ihre persönliche Stärke und Intelligenz erkennen und fördern und ihr dazu verhelfen bei den Erika Schwestern eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Sie arbeitet sich bis auf den begehrten Posten einer OP-Schwester hoch. Die Liebe zu Paul Studt ändert dann jedoch ihr ganzes (Arbeits-) Leben.
Politisch engagiert sich Martha in der Sozialdemokratie, hilft während des Hafenarbeiterstreiks in einer Suppenküche mit und erkennt wo ihre Werte liegen und wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Die Charaktere:
Melanie Metzenthin hat in diesem Buch viele sehr unterschiedliche Charaktere geschaffen, die durchweg vielschichtig und toll geschrieben sind. Es gibt niemals nur schwarz oder weiß, wie sie selbst sagt. Vielmehr schreibt sie jedem Charakter viele Eigenschaften zu und versteht es, den Leser zwischen Sympathie und Antipathie schwanken zu lassen.
Martha ist eine starke, junge Frau, die sich keineswegs sagen lässt, was sie tun und lassen soll. Sie denkt stets selbst darüber nach, was für sie Recht und Unrecht ist. Sie ist die liebenswerte und bewundernswerte Protagonistin dieses Romans. Ich betitelte sie als Heldin, da sie ungeachtet der eigenen Schwierigkeiten, die sich aus ihren Handlungen ergeben haben, für ihre Werte einsteht, ihre Meinung laut ausspricht und vor allem etwas tut. Sie bewertet Menschen nicht nach ihrer Herkunft sondern ausschließlich danach, wer sie sind. Standesdünkel, wie er zu dieser Zeit üblich war, kennt sie nicht. Und das, obwohl ihr ihre bürgerlichen Mitschwestern teilweise mit Ignoranz und in Augustes Fall sogar mit offener Ablehnung gegenübertreten. Ihre Freundin Milli muss den tragischen Weg der Prostitution gehen, da ihr Vater sie in diese Rolle zwingt. Und trotz aller Risiken ihrem eigenen Ruf zu schaden, hält Martha an dieser Freundschaft fest. Milli ist lange Zeit die einzige Person, der sie zu 100% vertraut.
Milli ist eine ebenso starke Persönlichkeit, wenngleich sie ein völlig anderes Leben als Martha führt. Ausgestoßen aus der Gesellschaft versteht sie es, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und sich in den gehobenen Kreisen der Gesellschaft als Kurtisane zu bewegen. Wegen ihrer Minderjährigkeit kann sie sich noch nicht gegen ihren prügelnden und trinkenden Vater zur Wehr setzen, der ihr das Geld, das sie mit ihrem Körper erwirtschaftet, abnimmt. Milli hält an ihrem Traum fest, eines Tages nach Amerika auszuwandern und dort ein Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. Dafür lässt sie sogar die Sicherheit einer Ehe sausen und bricht Moritz das Herz, der immer zu ihr gestanden hat. Aber für ihre Tochter Anna, die ein besseres Leben haben soll als sie, stellt sie jedweden Gedanken an ein Bleiben in den Hintergrund.
Milli und Martha agieren mit den unterschiedlichsten Menschen aus bürgerlichen und armen Verhältnissen. Die Autorin hat beiden Frauen viel von ihren eigenen Erfahrungen als Psychologin mitgegeben. Das macht beim Lesen besonders viel Freude, wenn man die Dialoge und Gedanken der Frauen verfolgt.
Sämtliche Figuren im Roman wirken lebendig und authentisch. Man kann sich dem Liebreiz der Frauen nicht entziehen, ob man die anderen mag oder nicht, muss der Leser selbst entscheiden. Ich für meinen Teil konnte viele Charaktere verstehen und wirklich schlecht fühlte sich für mich keine Figur an. Gerade die Frauen in dieser Zeit mussten sich irgendwie zu helfen wissen. Ob dabei die Stilmittel immer auf die Zustimmung des Lesers von heute treffen, ist sicherlich individuell zu betrachten. Ich fand es einfach toll, wie Milli der Ungerechtigkeit, die sie erfahren hat, begegnet ist. Mit viel Intelligenz und Hilfe von Freunden konnte sie ihre Gegner in die Schranken verweisen.
Schreibstil und Sprachklang:
Der Schreibstil von Melanie Metzenthin ist flüssig und zieht den Leser in die Geschichte hinein. Ihre Beschreibungen sind bildgewaltig, aber nicht detailverliebt. Man kann sich die Örtlichkeiten, die Menschen, die Situationen stets lebhaft vorstellen ohne dass man Gefahr läuft Langatmigkeit zu begegnen. Insbesondere die Liebe zwischen Martha und Paul ist so herrlich geschrieben. Die Autorin sagte selbst, dass sie sich lieben, aber nicht schmachten würden. Und genau das ist es! Marthas Unerfahren- und Unsicherheit in Bezug auf ihre Gefühle und Pauls Zurückhaltung sind es, die dem Leser das Gefühl von Schmetterlingen und rosa Herzen bringen. Großartig!
Ebenso versteht sie es, die dunklen Kapitel, die Hilflosigkeit der Charaktere und ihre Stärke in Worte zu fassen, die ein großes, passendes Bild erschaffen.
Der Sprachklang der Geschichte ist für mein Dafürhalten absolut authentisch. Die Sprache war zu dieser Zeit eine andere als heute und die Autorin schafft es die ganze Zeit allein durch ihre Wortwahl und die Dialoge die vergangene Zeit lebendig werden zu lassen.
Recherche:
Die historischen Hintergründe des Romans sind belegbar. In ihrem Nachwort erzählt die Autorin darüber wo sie die Fakten her hat und was wahr und was fiktiv ist, sogar welche Figuren historisch belegt sind. Der Roman ist somit ein bisschen wie der Gang durch ein Museum – nur wesentlich unterhaltsamer.
Fazit:
Dieses Buch ist keineswegs ein Frauenroman, es ist auch kein Krankenhausroman. Vielmehr ist er die historische Geschichte über wunderbar vielschichtige Menschen in einer dunklen Zeit in Hamburg. Es ist eine Geschichte, in die man eintauchen kann und erst auf der allerletzten Seite wieder auftaucht. Das Ende des Buches hinterließ bei mir das Gefühl des Verlassen Werdens, weil mir Martha und Milli und all die anderen ans Herz gewachsen waren – da passte der Abschied von Martha und Milli am Hamburger Hafen perfekt zum Gefühl.
Ein ganz klares must read für jeden Liebhaber historischer Romane.