Wir befinden uns im Jahr 1920 in Augsburg. Der Aufbau nach dem Ende des 1. Weltkrieges schreitet stetig voran und bei Familie Melzer ist wieder der Alltag eingezogen. Das Lazarett ist aus der Empfangshalle verschwunden und die Villa erstrahlt wieder in altem Glanz.
Marie Melzer, die während des Krieges die Tuchfabrik am Laufen hielt, hat die Führung der Firma an ihren Mann Paul und dessen Freund Ernst von Klippstein abgegeben. Mutter Alicia hält in der Villa noch immer alle Fäden straff in der Hand und hat vor allen Dingen das Personal gut im Griff (Ausnahmen bestätigen die Regel). Tochter Elisabeth von Hagemann wohnt mit ihrem vom Krieg gezeichneten Ehemann Klaus auf einem Gut in Pommern und Kitty Bräuer lebt seit dem Tod ihres Mannes Alfons wieder mit ihrer Tochter Henny in der Tuchvilla. Aber das Leben der Mälzers ist von Veränderungen durchsetzt und nichts ist für die Ewigkeit.
Zum 3. und letzten Mal nimmt die Autorin Anne Jacobs den Leser mit in die Villa der Familie Melzer und genau wie die beiden umfangreichen Vorgänger „Die Tuchvilla“ und „Die Töchter der Tuchvilla“, wartet auch dieses Buch mit satten 672 Seiten auf. Wenn man Band 1 und 2 gelesen hat, fühlt sich Band 3 tatsächlich wie „nach Hause kommen“ an.
Ich denke es ist möglich, dieses Buch auch als Einzelband zu lesen. Im Hinblick auf die ganze (schöne) Vorgeschichte empfiehlt es sich jedoch, beide Vorgänger gelesen zu haben.
Den 2. Band habe ich vor fast genau 1 Jahr gelesen, weswegen ich zuerst einmal die Charaktere wieder sortieren musste. Zur Gedächtnisauffrischung streut die Autorin zwischendurch immer mal wieder Informationen ein, anhand derer ich mich dann auch wieder an Dinge erinnern konnte, die in meinem Gedächtnis leider nicht mehr ganz so präsent waren. Der Einstieg gelang mir deswegen recht schnell.
In erster Linie geht es in diesem Band um die Probleme zwischen Paul und Marie Melzer. Zwar haben sie vor dem Krieg aus Liebe geheiratet, aber Pauls Einberufung in den Krieg hat ihnen dann leider keine Zeit gelassen sich näher kennenzulernen und nun müssen sie gemeinsam den Alltag meistern.
Nachdem Marie die Leitung der Tuchfabrik wieder in die Hände ihres Mannes und dessen Freund von Klippstein zurückgegeben hat, widmet sie sich der Erziehung ihrer Kinder Dodo und Leo. So wirklich füllt sie dieser „Job“ aber nicht aus, weswegen Paul ihr einen Traum erfüllt, indem er Räumlichkeiten für ein Atelier anmietet, in dem Marie fortan ihre Kreativität ausleben kann. Erstaunlicherweise geht der Laden sehr gut – und das zu einer Zeit, in der der Kauf einer Toilette 300 Millionen Reichsmark kostet.
Man kann nicht alle Dinge gleichzeitig tun/haben und mit steigender Bekanntheit ihres Ateliers schwindet die Zeit, die Marie für ihre Kinder aufwenden kann, weswegen ihre Schwiegermutter Alicia, über alle Köpfe hinweg, Serafina von Dobern als Kinderfrau einstellt.
Frau von Dobern bringt ziemlich Unruhe in die Tuchvilla, denn ihre Erziehungsmethoden stoßen - außer bei Alicia - nirgendwo auf Wohlwollen. Ihr Einzug in die Villa hat Auswirkungen auf die ganze Familie und es scheint, als ob Alicia dieser Frau hörig wäre.
Positiv überrascht hat mich in diesem Buch Kitty, die in Band 1 und 2 fast immer rücksichtslos und egoistisch nur ihre eigenen Bedürfnisse durchgesetzt hat. In diesem Teil zeigt sie, dass sie durchaus auch anders kann, denn für ihre Familie wird sie zur Löwenmutter, die für das kämpft was sie liebt – ungeachtet aller Konsequenzen. Kitty entwickelt sich zu meiner Lieblingsfigur.
Elisabeth von Hagemann, normalerweise das genaue Gegenteil von Kitty, erscheint mir dieses Mal sehr wankelmütig und sprunghaft und erst eine Veränderung ihres persönlichen Umfeldes gibt ihr wieder ihre Selbstsicherheit und Stabilität zurück. Bei ihr braucht es tatsächlich bis fast zum Ende der Geschichte, bis sie wieder in Einklang mit sich selbst und ihrem Umfeld ist.
Auch Paul hat nicht immer meine uneingeschränkte Sympathie. Gerade was die Angelegenheit Serafina von Dobern betrifft, hätte ich mir von ihm ein konsequenteres Auftreten gewünscht – indem er auch seiner Mutter einmal die Stirn bietet, um diese von Dobern zu stoppen. Paul jedoch schweigt. Den Umgang mit seinen Kindern muss er ebenfalls erst lernen, hier braucht er ein wenig Zeit um dann doch noch auf den richtigen Pfad zu gelangen.
Neben den Herrschaften trifft der Leser natürlich auch wieder auf die Bediensteten der Tuchvilla und es ist schön zu sehen, dass auch ehemalige Angestellte immer willkommen sind um ihr Herz auszuschütten. Aber natürlich gibt es auch unter den Bediensteten eine Hackordnung, gegen die tunlichst nicht aufbegehrt werden sollte.
Auch im 3. Teil der Tuchvilla-Saga ist der Schreibstil von Anne Jacobs sehr angenehm zu lesen und die wechselnden Erzählungen jeweils aus Sicht der Melzers oder der Bediensteten, machen die Geschichte auch dieses Mal wieder abwechslungsreich. Die Sprache und das Auftreten der Personen passt für mich in die damalige Zeit und die Charaktere erscheinen mir realistisch und authentisch.
Die Autorin schafft es tatsächlich, dass es über die Gesamtlänge von 2.113 Seiten in 3 Bänden nicht langweilig wird. Lediglich am Schluss des 3. Bandes erscheinen Personen auf der Bildfläche, an die ich mich so gar nicht mehr erinnern konnte und die, meiner Meinung nach, nicht mehr hätten auftauchen müssen um der Geschichte einen Abschluss zu geben.
Alles in allem ist „Das Erbe der Tuchvilla“ ein wirklich gelungener Abschluss der Familien-Saga, die in und um die Zeit des 1. Weltkrieges angesiedelt ist.