Fenster zum Leben
Nach ihrem Erfolgsdebüt „Pixeltänzer“ leuchtet die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Berit Glanz nun auch in ihrem neuen unterhaltsamen Roman „Automaton“ faszinierend die nahtlosen Verbindungen zwischen ...
Nach ihrem Erfolgsdebüt „Pixeltänzer“ leuchtet die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Berit Glanz nun auch in ihrem neuen unterhaltsamen Roman „Automaton“ faszinierend die nahtlosen Verbindungen zwischen der analogen und der digitalen Welt aus – und betrachtet feinfühlig die Menschen, ihre Leben und Probleme darin. Dabei lässt sich Glanz konzentriert Zeit beim Erzählen und dem subtilen Aufbauen zweier Erzählstränge aus zwei Frauenleben auf zwei unterschiedlichen Kontinenten, die sich dank der digitalen Vernetzung langsam und hoffnungsvoll verbinden.
Protagonistin Tiff (schöne Anspielung auf das gleichnamige Bildformat) ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und leidet an starken Angststörungen, die sie an ihre Wohnung fesseln – sie ist Content-Managerin und Clickworkerin, hat für eine große Social Media Firma moderiert und anstößigen Inhalt sowie gewaltvolle Bilder gefiltert, bis sie diese nicht mehr losgelassen haben und sich in ihrem Kopf eingebrannt haben. Gefangen in Armut und prekären Arbeitsverhältnissen arbeitet sie von zuhause aus als Automaton: Über Foren zieht sie sich monotone Jobs, sogenannte Autobs, ans Land, in denen sie Inhalte wie Bilder, Texte oder Videos ansehen und verschlagworten muss. Eine Arbeit, die laut ExtraEye angeblich von KI durchgeführt wird, doch leisten sie in Wahrheit schlecht bezahlte, menschliche Clickworker. Auch hier besteht die Gefahr, dass sie hilflos verstörenden Content ansehen muss, doch die meisten Aufträge erweisen sich zwar als stupide und repetitiv, aber harmlos. In einem Auftrag der Firma ExtraEye überwacht sie Überwachungskamera-Aufzeichnungen einer amerikanischen Lagerhalle – auf mehreren Aufnahmen ist ein bärtiger, obdachloser Mann zu sehen, der seinem Hund liebevoll etwas vorliest und vor den Toren übernachtet. Dann verschwindet der Mann, doch der Hund bleibt verstört und verängstigt zurück, bis auch er nicht mehr zu sehen ist.
Tiff entscheidet diesmal, nicht hilflos zuzusehen, wie die Menschen in den Videos aus ihrem Leben verschwinden und sie nicht weiß, wie ihre Geschichte endet – anders als eine KI hat sie menschliche Emotionen. Entgegen ihrer Existenz- und anderen Ängsten stellt sie sich ihrer Hilflosigkeit und erhält solidarische, digitale Hilfe ihrer Chat-Freunde aus den Automaton-Foren. Gemeinsam gehen sie virtuell auf Spurensuche nach Mr. Beard und seinem Hund – sie wird sie an die amerikanische Westküste zu Stella führen, die den zweiten Erählstrang des Romans ausmacht: Sie arbeitet auch in prekären Arbeitssituationen, aber in der analogen Welt auf einem Marihuana-Feld in Kalifornien und hilft nebenbei in der Suppenküche aus. Auch sie hat mit Traumata aus der Vergangenheit, Einsamkeit und Enttäuschung zu kämpfen, doch der Fall von Tiff aus Deutschland wird auch ihr neue Hoffnung schenken.
Mit einer subtilen Spannung, einem ruhig-eindringlichen Schreibstil, der sich mit mehreren Chatprotokollen mischt, und einer klaren Sprache zeigt Berit Glanz deutlich und empathisch auf, wie sich prekäre Arbeitssituationen in der analogen und digitalen Welt ähneln und unterscheiden. Die Kapitelüberschriften in Tiffs Welt gleichen einer lateinischen Nomenklatur der Tier- und Pflanzenwelt und haben eine puzzleartige Bedeutung in den jeweiligen Kapiteln, bis am Ende der schöne covergebende Hauhechel-Bläuling das Ende berührend abrundet. Die Überschriften in Stellas Leben spielen mit dem Gegensatz der physischen Arbeit in der Natur, größtenteils mit Holz in der Anspielung auf die aussterbende Holzfällerarbeit des Großvaters.
Tiffs Ängste, aber auch ihr Fenster zum Hof (Hitchcock lässt grüßen), ihr Blick durch das Browserfenster hindurch ins analoge Leben eröffnet ihr selbst Heilungs- und Handlungsmöglichkeiten im eigenen Leben. Glanz spielt in ihrem klug arrangierten und vielschichtigen Roman gekonnt mit den neuen Möglichkeiten im digitalen Raum und entwickelt eine zutiefst menschliche Geschichte über Zusammenhalt, Hoffnung und Solidarität in einer Welt, die immer isolierter zu werden scheint. Detailliert, mitfühlend und psychologisch fein herausgearbeitet schildert sie das Privatleben der zwei Frauen in all seinen Facetten, beobachtet feinsinnig ihre Sorgen, Wünsche und unterschiedliche Arbeitswelten.
Ein bewegender, gesellschaftskritischer sowie hoffnungsstiftender Roman über die Handlungsspielräume des Einzelnen hin zu einem sozialeren Miteinander in einer durchdigitalisierten, ausbeuterischen und vom Kapitalismus geprägten Umgebung.