Mehrere Erzählstränge bestens verflochten
Hélène Hel ist 96 Jahre alt und lebt im Seniorenheim in dem kleinen französischen Ort Milly. Ihre Gedanken schweifen täglich zum Meer. Dort steht sie dann am Strand und wartet auf ihren Liebsten Lucien, ...
Hélène Hel ist 96 Jahre alt und lebt im Seniorenheim in dem kleinen französischen Ort Milly. Ihre Gedanken schweifen täglich zum Meer. Dort steht sie dann am Strand und wartet auf ihren Liebsten Lucien, der jedoch schon vor vielen Jahren verstorben ist. Im Buch „Die Dame mit dem blauen Koffer“, dem Debütroman von Valérie Perrin, erzählt sie der jungen Pflegehelferin und Protagonistin Justine ihre Lebensgeschichte. Justine notiert sie auf Wunsch des Enkels in ein Notizheft. So wie nur die Gedanken von Hélène und nicht sie selbst am Meer sind, so ist auch die Figur auf dem Cover lediglich ins Bild montiert und nicht wirklich bei der Fotographie vor Ort. Schon die Gestaltung des Titels bei dem ich glaubte, durch den Wellengang das Meer rauschen zu hören, machte mir Lust darauf, mehr darüber zu erfahren, warum dieser Ort für Hélène so stark mit Lucien verknüpft ist.
Justine lebt bei ihren Großeltern. Ihre Eltern sowie ihr Onkel und ihre Tante sind bei einem Unfall ums Leben gekommen und ihr jüngerer Cousin gehört ebenfalls zum Haushalt. Ihr Beruf ist ihr Traumjob, für den sie sich nach dem Abitur anstelle eines Studiums entschieden hat. Ihr liegen die Bewohner des Seniorenheims sehr am Herzen und daher verbringt sie hier über ihre Arbeitszeit hinaus viele Stunden. Zum Ausgleich besucht sie alle drei Wochen eine Diskothek. Sie flirtet gern und lässt sich hin und wieder auf einen Mann ein, eine feste Beziehung hat sie nicht. Die Liebe von Hélène zu Lucien spricht in Justine etwas an, das sie dazu bringt, über die Liebe ihrer Großeltern und deren Verlust der Söhne und Schwiegertöchter nachzudenken. Aber auf Fragen nach Details zum Unfallgeschehen erhält sie nur unbefriedigende Antworten. Justine vermutet, dass ihr etwas verschwiegen wird und macht sich auf die Suche nach den Hintergründen.
Der Roman ist eine leise Geschichte oder eigentlich zwei. Zu Beginn wirkte Justine auf mich etwas arglos, konnte mich im Laufe des Romans aber davon überzeugen, dass sie ihre Ideen und Meinungen auch immer in die Tat umsetzt. Sie liebt ihre Tätigkeit Tag für Tag. Die Autorin beschreibt sie im Umgang mit den Senioren mitfühlend und hilfsbereit. Für ihren Cousin spart sie einen Teil ihres Geldes, um ihm uneigennützig ein Studium zu finanzieren. Nur eine feste Partnerschaft kann sie sich augenblicklich nicht vorstellen. Ich habe mich für sie gefreut, dass die Liebe sie dennoch nicht vergessen hat. Das Verhältnis zu ihren Großeltern bleibt unklar. Zwar leben sie zu viert in einem Haushalt, der von der Großmutter geführt wird, doch jeder geht seinen eigenen Weg. Dieses eher distanzierte Verhalten klärt sich im Laufe der Geschichte, denn Justine drängt zunehmend auf die Beantwortung ihrer Fragen zum Hergang des Unfalls ihrer Eltern. Dabei deckt sie einige Familiengeheimnisse auf, die auch eine Erklärung für das augenblickliche Stimmungsbild bieten
Gleichzeitig zeichnet Justine feinsinnig die von Hélène erzählte Geschichte auf, die im Text kursiv zu lesen ist und die mich mit in die Vergangenheit in die 1920er Jahre nahm. Hélène ist Legasthenikern, eine Krankheit die damals noch nicht erkannt wurde. Sie bricht die Schule ab und arbeitet zu Hause als Schneiderin. Lucien hat bereits in jungen Jahren die Angst, wie sein Vater zu erblinden. Beide finden bei dem jeweils anderen Unterstützung und Halt, bis der zweite Weltkrieg ausbricht, sich das tägliche Leben ändert und schließlich Lucien zum Kriegsdienst eingezogen wird. Eine schicksalsschwere Zeit beginnt für die beiden. Hélènes Geschichte ist ungewöhnlich, berührend und so mitreißend, dass die Seiten wie im Flug gelesen waren.
Ganz nebenbei erhält der Roman zusätzlich Spannung durch bestimmte Vorfälle im Seniorenheim, deren Klärung bis zum Ende des Buchs ausstehen. Fließend gelingt Valérie Perrin die Verknüpfung der einzelnen Erzählfäden, die sie zu einem gelungenen Großen und Ganzen zusammenfügt. Eindringlich und offen beschreibt sie Liebesszenarien. Trotz der teils tragischen Ereignisse verliert die Geschichte nie einen gewissen heiteren Unterton. Das Buch war für mich beste Unterhaltung und daher empfehle ich es jedem gerne weiter.