Heimat
Was soll ich schreiben, nachdem ich dem Leuchtfeuer im Turm den Rücken gekehrt habe. Die letzte Seite umgeblättert habe und mit seltsamen, widerstreitenden Gefühlen zurückgeblieben bin. Gleichzeitig leer ...
Was soll ich schreiben, nachdem ich dem Leuchtfeuer im Turm den Rücken gekehrt habe. Die letzte Seite umgeblättert habe und mit seltsamen, widerstreitenden Gefühlen zurückgeblieben bin. Gleichzeitig leer und ausgelaugt - aber auch eigentümlich zufrieden. Ich fühle mich geschockt und aufgefangen zugleich. Wie das Sonnenlicht, das nach langen zermürbenden Regen durch die dicke Wolkenschicht blinzelt. Versteht ihr das? Ich muss mich sammeln, um die Worte zu Papier zu bringen.
Von Natasha Pulley bin ich es gewohnt, dass sie schonungslos die Worte auf die Seiten setzt, die geschrieben werden müssen. Beinahe nüchtern geht sie zu Werke und trotzdem bin ich ihrer Art zu schreiben verfallen. Ich, der eine Szene nicht detailliert genug beschrieben sein kann. Hier ist es mir gleich. Hier sind mir ihre sparsamen Worte genug, um meine Fantasie blutige Blüten treiben zu lassen. Ein paar Eimer Sand hier, ein paarmal das Deck gefegt und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.
Ich muss das komplizierte Puzzle von allen Seiten betrachten, ehe alle Teile einen Sinn ergeben, so vielschichtig hat Pulley den Plot aufgebaut, der eigentlich auf den ersten Blick so simpel erscheint. Eine Postkarte aus der Vergangenheit lockt einen Mann ohne Erinnerungen zu einem einsamen Leuchtturm, unter dessen Schein sich das Tor zur Vergangenheit öffnet. So weit, so einfach. Ein bisschen erinnert der Klappentext an den Film „Das Haus am See“, oder? Ja, wer einen kuschligen Couchroman erwartet, der süße Szenen aneinanderreiht, der sucht hier vergeblich.
Joe, der erinnerungslose Protagonist, versucht sich anfangs mit seinem Leben zu arrangieren, soweit er es eben vermag. Er ist in meiner Gefühlswelt ein verlorener Charakter, der versucht sich seiner Umgebung anzupassen, um keinen zu verletzten. Um diejenigen nicht vor den Kopf zu stoßen, die es gut mit ihm meinen. Allein dass erfordert eine unglaubliche Stärke, weit mehr noch als einer Postkarte zu folgen, die ihn aus der Vergangenheit erreicht, so habe ich es empfunden. Und ich bin ihm wie ein junges Hündchen auf seinem Weg gefolgt - der ihn direkt in eine Version der blutigen napoleonischen Kriege hineingeführt hat. Auf See. Wie soll ich beschreiben, wie schwankend sich der Boden unter meinen Füßen angefühlt hat? Mir fehlen die Worte dazu, das kann Pulley mit ihren wenigen Worten viel besser.
Authentizität ist wohl das Wort, das meine Gefühlslage am ehesten widerspiegelt. Sie hat mit Joe und Kite und der Hand voll anderen Figuren solche glaubwürdigen Charaktere geschaffen, dass mir nicht nur einmal der Atem wegblieb. Sie sind unbequem, sie lieben, schockieren, überleben und begehen fragwürdige Taten, um das wichtige, das ihnen im Leben geblieben ist, zusammenzuhalten, zu retten. Erinnert ihr euch noch an den Welpen, der ich auf den ersten Seiten war? Der Welpe ist zum Wolf geworden, grollend, mit spitzen Klauen und Zähnen, zum Angriff bereit.
In „The kingdoms“ verarbeitet Pulley schwierige Themen, der Kriegsterror ist allgegenwärtig, die Figuren mehr oder weniger traumatisiert, ohne den Fluch beim Namen zu nennen. Wir sehen nur die zahllosen Auswüchse sprießen, lehnen uns schockiert zurück, lesen den Satz noch mal und sind uns dann sicher, dass sich die Figur wirklich so verhalten hat. Das ist Natashas Kunstgriff, den sie so meisterhaft beherrscht. Sie lässt mich immer glauben, dass die Figuren real sind, sein könnten, und das macht das Buch so fesselnd und grausam zugleich.
Das phantastische Element setzt sie wirklich nur sparsam ein, es gibt ein Tor durch die Zeit, paradox, aber im Buch wird es mehr als Mittel zum Zweck gesehen, als wirklich tiefgründig hinterfragt. Die Auswirkungen rütteln aber an den Fundamenten der Zeit. Die antreibende Frage in dem Buch ist aber, was würden verzweifelte Menschen alles tun, um ihre Gegenwart zu retten? Und diese Frage zieht sich durch die Seiten voller Grausamkeit und Krieg, durchsetzt mit ein paar zarten, seltenen Momenten, denen ich im Verlauf des Buches immer entgegengefiebert habe.
„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ ist beileibe kein leichtes Buch, durch dessen Seiten man einfach hindurchschlüpft. Wer sich mit Pulleys Stil aber anfreunden kann, der wird mit einer Geschichte belohnt, die sich erst zum Ende wirklich erschließt, wie ein entstehendes Aquarell, dessen Farben erst am Schluss die vom Künstler gewünschte Wirkung erzielen. Wir schauen auf das Bild, auf die ineinander übergehenden Farben und plötzlich erschließt sich das gesamte Bild. Man weiß, was Heimat ist.