Ein beeindruckendes Werk
„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf ...
„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf etwas hin oder von etwas weg. ... [Der Satz], ihn zu hören, ist begleitet von einer nur sekundenlangen, aber eindeutigen und unmittelbar körperlichen Empfindung – ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut.“ (S. 37)
Ich war gerade zwei Jahre alt, da debütierte Judith Hermann mit dem Erzählband „Sommerhaus, später“. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Seitdem veröffentlichte drei weitere Erzählbände und zwei Romane, zuletzt im Frühjahr 2021 „Daheim“, eine Geschichte, die von Erinnerungen erzählt, vom Aufbrechen und Ankommen, die geprägt ist von ihren stillen, magischen Momenten. Eben diesen, die keiner Worte bedürfen, in denen die Stille mehr als genug sagt.
Es ist das verbindende Element, das sich durch das Werk von Judith Hermann zieht, der rote Faden: diese magischen Momente, die ihre Kraft im Ungewissen entfalten, im Ungesagten, die die Grenzen des Rationalen überschreiten, Traum und Realität ineinander übergehen lassen. Doch: Was ist wahr, was erfunden, erträumt, was bleibt ungesagt? In „Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ reflektiert Judith Hermann im Rahmen ihrer Gastdozentur bei den Frankfurter Poetikvorlesungen anhand ihrer Lebensgeschichte ihr Schreiben und Denken über das Schreiben, inwiefern sie einander beeinflussen und bedingen, einander in ihren bisherigen Werken abbilden und eben nicht. Schreiben, eine Geschichte erschaffen, das ist ein Schutzraum für sie, die Erzählerin, „ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss“ (vgl. S. 16) bestehend aus dem, was nicht gesagt wird, dem Verschwiegenen. Wenn sie schreibt, dann über sich, über ihr Leben – und gleichzeitig aber auch nicht, denn was letztlich Teil der Geschichte bleibt, was gesagt wird, ist nur ein Schneekugelaugenblick. Ein Teil des Bildes, das sie mit Sprache festgehalten hat, eine „Imitation von Leben“ (vgl. S. 27).
„Die Familie ist nicht das einzig Ungeheuerliche, was dir geschieht. Am Ende ist alles ungeheuerlich. Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein unbetretbarer Ort. Aber sich etwas auszudenken hieße für mich, aus der Wirklichkeit hinaus und in eine andere Wirklichkeit hinein zu wollen – und das ist eben genau das, was ich nicht will.“ (S. 100)
Mit gleichermaßen zarten wie nachdenklichen Worten verwebt sie in drei Abschnitten Bilder ihrer Kindheit und dem Aufwachsen in einem Puppenhaus aus Dunkelheit, in dem sie schon früh Zuflucht in den Büchern fand, dem Wesen ihrer Familie, traurig-melancholischen Erinnerungen an ihre Wahlverwandtschaft, ihr Wolfsrudel, und den erste Pandemiewinter miteinander, zeigt anhand der Gefühle, Momente und Menschen, die sie prägten, inwiefern sie eben auch ihr Schreiben beeinflussten, was es braucht, um eine Geschichte zu schreiben – und was eben nicht. Denn Schreiben, so sagte sie bei ihrer Lesung in Berlin im April 2023, das sei ein unlösbares Paradox: Schweigen und Verschweigen zur selben Zeit. Sie überträgt dieses Paradox des Schreibens auf das Leben selbst – und andersherum, denn: „Das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“ (S. 15)
Während des Lesens stellte ich mir vor, ich säße in eben jenem Hörsaal, in dem Judith Hermann ihre Vorlesungen hielt, den Kopf auf die Hände gestützt, versunken, von Worten warm umarmt. Es war, als würde sich die Welt um mich herum langsamer drehen, so sehr ersetzten ihre Worte und Gedanken eben meine, fantasierte ich anhand der Geschichte um ihre Freundin Ada, was eben im Dunkeln verblieben ist; weinte um Marco, den Gammawolf; beobachtete ihren Analytiker Dr. Dreehüs – der an sich schon ein Paradox in sich ist; ich glühte. Einen Bleistift in der Hand, kehrte ich immer wieder zum Beginn eines Absatzes zurück, hinterließ mit Graphit meine Spuren zwischen den Worten, die die Welt bedeuten; die Fingerkuppen grau, eine jede Seite gezeichnet, der Einband geknickt. Ein Buch über das Leben, die Magie des Schreibens und alles dazwischen. Ein Jahreshighlight.