Die Schicksalsnacht, in der Frankenstein entsteht
Markus Orths hat mit „Mary & Claire“ einen exzellent geschriebenen Roman, erschienen bei Hanser, vorgelegt. Er beschreibt darin vor allem die schicksalshafte Begegnung von vier jungen Schriftstellern, ...
Markus Orths hat mit „Mary & Claire“ einen exzellent geschriebenen Roman, erschienen bei Hanser, vorgelegt. Er beschreibt darin vor allem die schicksalshafte Begegnung von vier jungen Schriftstellern, die tatsächlich stattgefunden hat. 1816, im Jahr ohne Sommer, fanden sich das Paar Mary Godwin und Percy Shelley sowie Marys Schwester Claire Clairmont und Lord Byron in einer Villa am Genfer See zusammen, wo in einer schicksalshaften Nacht der Anfang des Klassikers Frankenstein entstanden ist.
Mary und Claire sind Stiefschwestern, im Charakter sehr unterschiedlich. Dennoch verstehen sich die miteinander konkurrierenden Frauen. Sie schreiben beide und verlieben sich in den gleichen Mann: Percy Shelley, einen Literaten. Die drei sagen sich von dem Elternhaus los, von den herrschenden Konventionen. Sie reisen und leben zusammen, bis Claire sich in Lord Byron verliebt, obwohl sie ihn nicht persönlich kennt. Die Gesellschaft reagiert mit Ächtung auf das Trio.
Marys Stiefschwester Claire beginnt Byron zu schreiben, vergöttert ihn regelrecht. Und der Literaturstar Byron geht tatsächlich auf seinen Groupie ein. Aber der Dandy liebt auch Männer. Damals sind homosexuelle Beziehungen in England verboten, auch deshalb muss er sich im Ausland aufhalten. Das Publikum reizt das Verbotene und Anrüchige in dieser Zeit. Mir gefällt die Szene besonders, in der die Hotelgäste Ferngläser ausgehändigt bekommen, um zu Byrons Villa und dem Quartett, wenn es sich auf dem Balkon aufhält, herüberschauen zu können.
Claire vernichtet leider ihren Roman „Idiot“ in der Gewitternacht, in der sie alle Opium nehmen und sie eine Art Schreibwettbewerb abhalten. Claire fühlt sich klein neben dem großen Lord Byron. Wie die anderen zweifelt sie an sich und ihren Fähigkeiten zu schreiben. Eine sehr plastisch und fantastisch geschriebene Szene ist die am Brunnen, in den sie ihr Manuskript versenkt. Auch die erotische Szene mit Percy und Mary, die sich im Regen lieben und später Schnecken im Haar haben, finde ich stark.
Alle erleiden mehrere Schicksalsschläge und müssen den Tod ihnen Nahestehender verkraften. Interessant finde ich die Feststellung im Buch, dass es Einsamkeit sowie Leiderfahrung oder auch das Erleben tiefer Gefühle bedarf, um künstlerisch tätig sein zu können. Ich habe das Buch in kurzer Zeit gelesen. Es ist eine schöne Sprache, in die der Autor seine Version der Geschichte kleidet. Es entsteht alles vor dem inneren Auge. Markus Orths hat nicht nur einen Roman über die berühmten Literaten und deren Zeit verfasst, sondern auch eine Hommage ans Schreiben. Unbedingt lesen!