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Veröffentlicht am 13.02.2024

Eine Spurensuche

Krummes Holz
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Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine ...

Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine Schwester nicht und sein Vater Georg ganz sicher auch nicht, aber den wird er erstmal nicht zu sehen bekommen. Er steigt in den verbeulten Taunus und erinnert sich an Leanders Vater Vilém Dorodzala. Er war der beste einarmige Suffkopp, der jemals gelebt hat, bevor der Tod ihn aus Jirkas Leben gepflückt hat. Vilém war der einzige von den ganzen Wanderarbeitern auf dem Hof, der ihn aus dem Hundezwinger wieder rausließ, in den sein Vater ihn regelmäßig sperrte.

Im Grunde hätte Jirka schon eher kommen müssen, weil seine Schwester ihn darum gebeten hatte, vor einigen Wochen. Doch dann hatte der weltbeste Sozialarbeiter Jochen ihn bekifft erwischt und Hausarrest erteilt. Für Jirka war das kein Problem, für seine Schwester schon.

Im Taunus muss er seine heiße Stirn an die kühle Scheibe der Beifahrertür lehnen. Leanders starker Unterarm, mit dem roten Flaum verwirrt ihn, sein Geruch nach Erde und Zigarettenrauch lässt ihn die Augen schließen. Fünf Jahre haben sie sich nicht gesehen. Eine lange Zeit, die alles verändert, wenn man so jung ist wie Jirka.

Fazit: Zuerst einmal, die vielen Namen und Infos brachten mich zu Anfang ins Stolpern. Die Geschichte ist aber so interessant gemacht, dass ich dran bleiben musste. Mir gefällt die Technik des Rückblicks sehr. Die Autorin packt ganz langsam und bedächtig aus, was Jirka und seiner Schwester passiert ist. Die Charaktere sind sensibel gezeichnet. Leanders erotische Aura, die Jirka die Luft nimmt und zutiefst verunsichert, war spürbar, Jirkas Unsicherheit nachvollziehbar. Jirka begibt sich auf Spurensuche, um sich selbst zu verstehen. Er ist ein sensibler, trotziger, junger Mann. Wie traumatisiert er ist, wird ihm erst durch seinen Besuch auf dem Hof klar, wo sein Vertrauen mehrfach missbraucht wurde. Doch ja, ich mag dieses Debüt sehr und empfehle es ganz klar.

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Veröffentlicht am 12.02.2024

Gelungene Fallbeispiele

Emotionales Erbe
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Die Psychoanalytikerin und Supervisorin erklärt anhand vieler Fallbeispiele und aus Sicht epigenetischer Zusammenhänge, wie stark wir mit unseren Verwandten verbunden sind. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt:

1. ...

Die Psychoanalytikerin und Supervisorin erklärt anhand vieler Fallbeispiele und aus Sicht epigenetischer Zusammenhänge, wie stark wir mit unseren Verwandten verbunden sind. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt:

1. Die Großeltern

Hier zeigt uns die Autorin, wie sehr Kriegseindrücke, Holocausterfahrungen, Vergewaltigung und Vertereibung, über Generationen, in unsere Seelen gebrannt sind. Gerade wenn über solche Erfahrungen nicht geredet und die Scham und Demütigung tabuisiert wird, besteht die Gefahr, dass kommende Generationen, diese nicht verarbeiteten Traumata be- und verarbeiten werden müssen.

2. Die Eltern

Wir wissen vieles nich über unsere Eltern, aber nicht alles. Manchmal schweigen sie, um uns nicht zu verwirren, oder den eigenen Schmerz von uns fernzuhalten, weil sie und nicht belasten wollen. Auch Galit Atlas ist bei einem ihrer “Fälle” der Verlust eines Zwillingskindes während der Geburt begegnet. Der verbliebene Zwilling fühlte sich bis zu Beginn der Therapie, zerrissen, so als wäre ihm etwas wichtiges abhanden gekommen. Ebenso belastend sind verdrängte Fehlgeburten, Abtreibungen, aber auch Suizide innerhalb einer Familie. Es zwingt die nächste Generation förmlich dazu, die dabei erlebten Gefühle, wie Trauer, Wut und Scham, an Stelle der anderen aufzuarbeiten.

Der dritte Teil ist uns, der letzten Generation gewidmet und beschreibt, welche Auswirkungen Tabuthemen, wie Missbrauch auf uns haben. Wie sich eine emotonal abwesende Mutter auf unsere Entwicklung auswirkt. Warum wir es jedem recht machen wollen und wie wir den Teufelskreis durchbrechen können.

Fazit: Ich mag die Autorin und ihre Arbeit. Sie zeigt an gelungenen Beispielen, wie Übertragung und Gehenübertragung funktionieren, indem sie zeigt, welche Gefühle ihr Gegenüber in ihr hervorruft. Ob sie Sympathie empfindet, sich kümmern und Sicherheit vermitteln möchte, oder zu Tränen gerührt wird und mitfühlt. Was sie macht wirkt authentisch. Die Fallbeispiele lesen sich wie Kurzgeschichten und sind frei von Psychologischer Termini und daher auch für den Laien verständlich. Ich hätte mir einen kleinen Exkurs in die Bedeutung der Epigenetik, die ja noch ein ganz junges Wissenschaftsfeld ist, gewünscht. Das ist aber mein ganz persönliches Interesse. Ein Anspruch, den eine andere Leser*in sicher nicht hätte.

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Veröffentlicht am 06.02.2024

Plötzlich Persona non Grata

Die Rassistin
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Nora Rischer, 44 Jahre, Sprachwissenschaftlerin, Germanistikdozentin, lesbische Cis Frau mit Kinderwunsch, sitzt im unbequemen gynäkologischen Stuhl ihrer Frauenärztin, um sich künstlich befruchten zu ...

Nora Rischer, 44 Jahre, Sprachwissenschaftlerin, Germanistikdozentin, lesbische Cis Frau mit Kinderwunsch, sitzt im unbequemen gynäkologischen Stuhl ihrer Frauenärztin, um sich künstlich befruchten zu lassen. Ein kurzes Pling signalisiert ihr einen E-Mail-Eingang und die Botschaft: Rassistischer Vorfall an unserer Uni! springt ihr ins Auge. Nach kurzer eingängiger Visionierung ihres Seminars gestern, kommt sie zu der Überzeugung, der Vorwurf könne nur an sie adressiert sein, weil, ja warum eigentlich? Nun ja, sie hatte drei ihrer chinesischen, also drei ihrer Studierenden aus der Volksrepublik China empfohlen, ihre Deutschkenntnisse aufzufrischen. Hatte daraufhin jemand gelacht? Schon, aber das hat sicher auch damit zutun gehabt, dass ein anderer Studierender, der mit der Aura eines Investmentberaters, EI-NEN AUUS-SPRAACHEE-KURRSSS empfahl.

Wer hatte ihr jetzt die AStA auf den Hals gehetzt, die behauptet:

Die Lehrperson missbraucht ihre strukturelle Macht, um drei international studierenden auf Grundlage ihrer Ethnizität die Lernfähigkeit abzusprechen. S. 24

Ihr anmassendes Eingreifen habe in verletzender Weise, große Unsicherheiten bei dieser ethnischen Minderheit ausgelöst.

Bisher hatte sie sich stets für eine aufgeschlossene, liberale Lesbe gehalten, jetzt degradierte man sie zur Persona non Grata, wegen einer unbedachten Äußerung.

Fazit: Nachdem die Protagonistin erkannt hat, dass man ihr Rassismus vorwirft, entsteht in ihrem Kopf ein Tribunal, aus Überzeugungen und Selbstzweifeln. Sie lässt Szenen aus ihrer Vergangenheit Revue passieren, erruiert wann sie sich noch schuldig gemacht hat. Als sie in der weiterführenden Schule einen übergewichtigen Mitschüler Schwabbelbacke genannt hatte, vielleicht. Obwohl das ja die Idee des Lehrers gewesen war. So entsteht ein Dialog aus Stimmen, die sie verurteilen, verteidigen und freisprechen. Dabei erfahre ich auch von Noras Panikattacken, die nach dem sechsten oder siebten Übergriff eines erwachsenen Mannes gegen sie, als junges Mädchen, seltsamerweise plötzlich aufhören. Die Geschichte mag uns auf zynische Weise vor Augen führen, dass nicht jedes Wort moralisch besetzt ist und geahndet werden muss. Der derzeitige politische und akademische Diskurs scheint tatsächlich Blüten voranzutreiben, die exotisch anzusehen sind und verunsichert vielleicht mehr, als er vermeintlich von Diskriminierung Betroffene schützen möchte. Grundsätzlich mochte ich die Verkörperung dieser Idee zu einer Geschichte, es war mir aber auch ein bisschen viel. Das allerdings ist mein ganz persönlicher Geschmack.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Sensibel erzählte Kurzgeschichten

Nachbarn
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In dem Buch finden sich fünfzehn Kurzgeschichten, die alle das gleiche thematisieren. Ein Amerika der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre. Es dokumentiert den sozialen Umbruch und die Integration ...

In dem Buch finden sich fünfzehn Kurzgeschichten, die alle das gleiche thematisieren. Ein Amerika der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre. Es dokumentiert den sozialen Umbruch und die Integration schwarzer Amerikanerinnen in den Südstaaten.

In der Shortstory Nachbarn erleben wir rassistische Anfeindungen gegen Ellies Bruder Tommy. Tommy wird morgen seinen ersten Grundschultag haben, mit der Besonderheit, dort, der erste schwarze Junge zu sein. Sein Vater berät sich mit anderen Männern, was zu tun ist, wie er mit all den Briefen voller Hass umzugehen vermag.

In Die Kammer im ersten Stock lernen wir Winifred kennen. Sie wird von ihren wohlhabenden Eltern in das College gebracht, in dem sie wieder, im dreizehnten Jahr ihrer Schulausbildung, die einzige Schwarze ist. Ihre weißen Komillitoninnen wettern gegen sie, zuerst in suptilerem Flüsterton, später feinden sie Winifred offen an und meiden ihre Nähe.

Vor der Dämmerung erinnert an den tragischen Mord George Floyds, der sich unfassbare siebzig Jahre nach dieser Kurzgeschichte ereignete. Im gemütlichen Roast Crest Tea Room werden nur weiße bedient. Das wollen vier schwarze Jugendliche ändern. Sie ziehen ihre beste Kleidung an und besuchen die Tee Stube, aber statt bedient zu werden, werden sie verhaftet.

In der Geschichte Stau arbeitet Libby als Hausmädchen bei der weißen Mrs. Nelson. Libby selbst hat fünf Kinder um die sie sich kümmern müsste, das Jüngste gerade erst geboren. Mrs. Nelson kümmert es nicht, dass Libby keine Zeit für Überstunden hat. Libby braucht das bisschen Geld, das sie verdient dringend, denn ihr Mann Hal ist vor einer Weile abgehauen.

Fazit: Die Geschichten sind sensibel erzählt. Sie zeichnen ein genaues Bild der Armut und Ausgrenzung schwarzer Amerikaner
innen Frauen waren kinderreich, arm und abhängig von schlecht bezahlten Jobs, in denen sie ausgebeutet wurden. Ihre Männer haben ihre Herkunftsländer, in den Südstaaten verlassen, weil es keine Zukunftschancen gab. Die wenigen wohlhabenderen schwarzen Frauen, die Aussicht auf Bildung hatten, waren heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Das besondere an diesem Buch ist, dass es die einzigen, jemals veröffentlichten Kurzgeschichten von Diane Oliver sind, weil sie im Alter von 22 Jahren, bei einem Motorradunfall ums Leben kam.

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Veröffentlicht am 02.01.2024

Poetisch, zart und besonders

Lichtungen
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Lev lernte Kato auf eigentümliche Weise kennen, auf eine Art, die er sich nicht gewünscht hat, denn eigentlich wollte er mit dem eigenbrötlerischen Mädchen, aus seiner Klasse nichts zu tun haben. Doch ...

Lev lernte Kato auf eigentümliche Weise kennen, auf eine Art, die er sich nicht gewünscht hat, denn eigentlich wollte er mit dem eigenbrötlerischen Mädchen, aus seiner Klasse nichts zu tun haben. Doch dann lernen sie sich kennen und schätzen. Viel später, nach dem Fall der Grenzen, fahren sie gemeinsam von Zurich, nach Paris, Nantes, Montpellier, Richtung Osten, an der Küste entlang.

Dann erscheint Tom, der göttlich aussehende Hamburger, mit langem blondem Haar und goldbraunen Augen, der auf anziehende Weise keine Manieren hat und sich nicht um Konventionen schert, der Sprachbarrieren einfach weglächelt. Katos Interesse für den unabhängigen Tom wächst, ihr fiebriger Blick verrät es. Er ist ihr Freifahrtschein in die Welt, um ihrem Unglücklichsein zu entkommen.

Sie schreibt Lev regelmäßig Postkarten und auf einer davon, stehen nach fünf Jahren die Worte: Wann kommst du? Nicht mehr, nur diese drei Worte.

Fazit: Zuerst tat ich mich schwer, hatte Schwierigkeiten der Erzählung zu folgen, wenn mitten in einer interaktiven Szene, Levs eigene Gedanken auftauchten, konnte ich das nicht gleich ihm zuordnen. Im weiteren Verlauf klarte meine anfängliche Verwirrung auf. Die Autorin begann die Geschichte in der Gegenwart und widmete jedes Kapitel Levs Vergangenheit, schrieb immer weiter zurück und verdichtete ihr Konstrukt zu einem stimmigen Gesamtbild. Lichtungen, so der Titel, sind die Flächen in einem Wald, die heller, weil frei von Bäumen sind. So habe ich die Geschichte empfunden. Jedes Kapitel bringt mehr Licht ins Dunkel, Levs Geschichte, seine Freunde, Familie, sein Land und seine Werte, ans Tageslicht. Ich verstehe, was er erlebt hat und wer er dadurch ist. Verstehe, wer Kato ist. Die Sprache ist poetisch, zart und besonders, jedes Wort sitzt und gehört an die Stelle, für die es steht. Kein unnötiger Balast stört die Wahrnehmung. Lichtungen ist kein bequemes Buch, das man mit einem Haps wegliest, es mag erarbeitet werden. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer außergewöhnichen Geschichte belohnt, die einen tiefen Eindruck hinterlässt.

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