Babas Schweigen – Zwischen Familiengeheimnissen und der Suche nach Identität
"Wir sind noch nicht weit gefahren und trotzdem lassen der karge Munzur und der Fırat eine tiefe Sehnsucht entstehen. Sehnsucht wie Özlem. Jetzt weiß ich, warum ich so getauft wurde. Ich bin das Kind, ...
"Wir sind noch nicht weit gefahren und trotzdem lassen der karge Munzur und der Fırat eine tiefe Sehnsucht entstehen. Sehnsucht wie Özlem. Jetzt weiß ich, warum ich so getauft wurde. Ich bin das Kind, das in der Sehnsucht entstanden und geboren ist." - Buchzitat (S.91)
Özlem Çimen entfaltet in ihrem Debütroman "Babas Schweigen" eine zutiefst emotionale Reise durch die Identität einer Familie. Die Geschichte wird aus der Sicht der Protagonistin aufgeblättert, die sich unerwartet der eigenen Vergangenheit stellen muss.
Die Autorin, selbst aufgewachsen in der Schweiz, begibt sich als Erwachsene zurück in das ostanatolische Dorf ihrer Kindheit. Die Sommer, einst von unbeschwerter Freude geprägt, werden zum Schauplatz einer schmerzhaften Enthüllung. Durch einen beiläufigen Kommentar ihres Onkels erfährt Çimen, dass das Dorf einst von Armenier:innen bewohnt war – eine Tatsache, die sie nie zuvor in Erwägung zog. Dieser Moment des Erwachens setzt eine intensive Forschungsreise in Gang, die sie schließlich dazu bewegt, das lang gehütete Schweigen ihres Vaters zu brechen.
Das Buch, obwohl kurz, entfaltet sich immer aus der Perspektive der Protagonistin in drei Zeitebenen: der Kindheit in den 90ern, der Erkenntnis im Jahr 2013 und der endgültigen Konfrontation im Jahr 2022. In knappen Kapiteln verwebt Çimen Kindheitserinnerungen mit gegenwärtigen Stimmungsbildern und schafft so ein facettenreiches Bild ihrer Familiengeschichte.
Die Erzählung ist geprägt von subtilen Hinweisen, die sich nach und nach zusammensetzen. Die Protagonistin durchlebt eine Achterbahn der Gefühle, von der Unschuld der Kindheit bis zur schmerzhaften Wahrheit über den Völkermord an den Armenier:innenn. Dabei werden nicht nur persönliche Familiengeheimnisse, sondern auch die kollektive Geschichte einer Minderheit enthüllt. Die kulturellen Elemente, eingewoben in die Geschichte, verleihen dem Werk eine besondere Authentizität. Çimen beschreibt mit Liebe zum Detail die aprikosenbestandenen Landschaften, kulinarische Genüsse und traditionelle Bräuche. Die Verwendung der zazakischen Sprache in den Kapitelüberschriften (hêkete, cirestiş ...) trägt zur kulturellen Tiefe bei und vermittelt einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Erzählung. Die Sprache ist einfühlsam und poetisch, ohne dabei an Präzision zu verlieren. Besonders gelungen ist die Integration von humorvollen Momenten, die die Schwere des Themas auflockern. So hat mich die kurze Sequenz mit den Sonnenkernen erheitert, weil ich mich selbst auch in der Situation von Felix gesehen hab, als ich mich zum ersten Mal an die Kerne gewagt habe: "Das Knabbern von Sonnenblumenkernen ist so etwas wie ein Nationalsport. Die Schalen werden auf einen Haufen gespuckt. Dabei geht es darum, den größeren Haufen zu produzieren als die anderen" (S. 16)
Die finale Konfrontation des Vaters und die darauffolgende Friedensschließung der Protagonistin mit der Familiengeschichte hinterlassen einen starken Eindruck: "Wir werden viele Geschichten hören, die wir nicht immer verstehen werden. Vielleicht werden wir eines Tages alle Zusammenhänge begreifen, die für uns im Moment noch im Verborgenen sind." (S.90) Für mich war er allerdings zu kurz gegriffen und zu aprubt.
"Babas Schweigen" ist eine literarische Perle, die Geschichte, Kultur und persönliche Entdeckungen in einem harmonischen Geflecht verbindet. Als Leser:in wird man mit auf eine emotionale Reise genommen, die nachdenklich stimmt und zum Verständnis transgenerationaler Traumata beiträgt. Özlem Çimens "Babas Schweigen" verdient 4 Sterne (einen Stern Abzug wegen dem Ende) für seine tiefe Emotionalität, kulturelle Authentizität und subtile Enthüllung familiärer Geheimnisse. Ein Buch, das trotz seiner Kürze nachhaltige Eindrücke hinterlässt.
Das Buch ist ein Rezensionsexemplar. Dies hat die Meinung jedoch nicht beeinflusst.