Wenn Leyla in den Sommerferien zur Familie ihres Vaters fährt, darf sie nicht sagen "Ich fahre nach Kurdistan" sondern sie muss sagen "Ich fahre zu meinen Großeltern". Denn Kurdistan und seien Bewohner gibt es nicht.
Doch wie kann es etwas nicht geben, dass sich so real anfühlt für Leyla? Wie soll sie anderen begreiflich machen, was in den Sommern in Nordysrien geschieht, was diese Menschen, die es nicht geben soll, ausmacht? Und wie soll sie es ihren Mitmenschen recht machen? Ihren Großeltern ist sie nicht kurdisch genug, ihrem Vater nicht fleißig genug und ihren Mitmenschen nicht deutsch genug.
Ronya Othmann hat mit "Die Sommer" einen sehr besonderen Roman geschaffen, der das Schicksal der Jesiden eindrucksvoll aufarbeitet. Es ist durch seinen Inhalt aber auch durch seinen Aufbau sicherlich kein leichtes Buch, dennoch konnte ich es kaum aus der Hand legen. Leyla erzählt die Vergangenheit ihrer Familie durch Geschichten, durch Gedanken und kurze Momentaufnahmen. Dadurch wirkte v.a. der Mittelteil sehr fragmentarisch, das Fehlen von klar strukturierten Kapiteln trägt ebenfalls nicht zur 'besseren' Ordnung bei. Doch das ist nicht schlimm, denn auch das Leben von Leyla und ihrer Familie ist nicht geradlinig. Trotz dieser 'zerstückelten' Erzählweise schafft es Othmann, eine Verbindung zwischen Leser und Charakteren aufzubauen, die zunehmend intensiver wird.
Leyla lebt in zwei Welten, ihr Leben ist aufgeteilt in zwei Länder und zwei Jahreshälften, und bei jedem Wechsel ist es wie beim ersten Mal. Die Welt dreht sich weiter, doch in beiden Lebenshälften fehlt ihr ein wichtiger Teil dieser Entwicklung, was man als Leser deutlich spürt. Sie muss sich immer wieder neu an die Menschen und ihre Sprache gewöhnen und versteht doch nicht alles. Und mit zunehmenden Konflikten in Syrien und der immer größeren Gefahr für ihre Familie und Freunde im Heimatdorf ihres Vaters, versteht sie ihre Mitmenschen in Deutschland immer weniger. Wie können sie so uinbeteiligt sein, wie ihr normales Leben weiterleben, wenn dort in Syrien die Menschen verfolgt und gefoltert werden und sogar sterben? Und die viel wichtigere Frage, wie kann sie selbst es?
Beim Lesen startet man in der Vergangenheit des Vaters, man spürt seine Hoffnung, dass sich jetzt wo der Präsident tot ist, endlich etwas verändert in seiner Heimat, dass die Jesiden nicht mehr unterdrückt werden. Man spürt die Euphorie und man spürt auch die Enttäuschung, die Resignation, die sich unweigerlich einstellt. Denn es ändert sich nichts, ein Krieg wurde von einem anderen abgelöst, seine Familie ist vielleicht bedrohter denn je. Und immer stärker kommen diese Gefühle auch bei Leyla auf, sie muss eine Entscheidung treffen und weiß doch nicht welche.
Ich dachte, vieles wüsste ich schon, doch Ronya Othmann hat mir mit ihrem Roman gezeigt, dass es nicht genug ist. Durch Leyla und ihre Familie sensibilisiert sie den Leser und animiert ihn zum Nachdenken und Sich-Informieren und schon alleine dafür ist das Buch empfehlenswert.