Alte Schuld
Bei vorablesen habe ich das Buch von Jessica Lind "Kleine Monster" entdeckt. Der Klappentext hat mich angesprochen und als ich las, dass die Autorin nur 30 km von meinem Heimatort entfernt geboren wurde ...
Bei vorablesen habe ich das Buch von Jessica Lind "Kleine Monster" entdeckt. Der Klappentext hat mich angesprochen und als ich las, dass die Autorin nur 30 km von meinem Heimatort entfernt geboren wurde und im Buch auch Sankt Pöltens als Setting gewählt wurde, wusste ich, dass ich meine Punkte einlösen und diesen Roman lesen muss.
Gestern, nach Beenden des Buches, habe ich auch noch Teile eines Interviews mit Mareike Fallwickl und Jessica Lind auf Instagram gesehen, welches sehr interessant war.
In "Kleine Monster" geht es um Pia und Jakob, die von der Lehrerin ihres Sohnes in die Schule beordert werden. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll mit einer Mitschülerin alleine im Klassenzimmer gewesen sein und es soll etwas passiert sein. Näheres erfahren wir als Leser:innen nicht. Pia und Jakob werden aus dem Elternchat der Klasse entfernt. Sie sind sprach- und hilflos, denn auch Luca schweigt zum Vorkommnis.
Durch diesen Vorfall, der vorallem Pia sehr beunruhigt, werden Erinnerungen aus ihrer Kindheit wieder lebendig. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass das Verhalten von Kindern widersprüchlich sein kann. Mit immer größer werdender Distanz beobachtet sie ihren Sohn und fühlt sich dabei immer schuldiger. Immer öfters erinnert sie sich an Szenen aus ihrer Kindheit. Gemeinsam mit ihrer Adoptivschwester Romi und ihrer kleinen Schwester Linda, die bei einem Unglück ums Leben gekommen ist, waren sie die "Wir drei sind eins" Mädchen. Durch das bis heute anhaltende Schweigen der Eltern über den Unfall von Linda, kommt in Pia wieder vieles hoch, was sie nicht los lässts. Doch wie zuverlässig sind Pias Erinnerungen?
Keiner der Familienmitglieder hat das Unglück richtig verarbeitet. Was ist an diesem Tag genau passiert, als Linda verunglückt ist? Warum wollte ihre Mutter nie darüber sprechen? Und wieso hat ihre Schwester Romi das Elternhaus so bald wie möglich verlassen und den Kontakt zu allen abgebrochen?
Viele dieser Fragen werden beantwortet, aber nicht alle bzw. nicht vollständig. Wer hier öfters mitliest weiß, dass ich offene Enden hasse. Trotz mancher nicht auserzählten Handlung war für mich die Geschichte trotzdem rund und passend.
Der Roman wechselt zwischen Gegenwart und der Kindheit Pias, die aus ihrer Sicht erzählt wird. In Rückblenden erleben wir Pias Gefühlswelt und die Sprachlosigkeit, die damals zwischen ihr und den Eltern herrschte. Die belastende Situation in der Gegenwart und Pias Misstrauen sind dadurch jederzeit greifbar.
Die Figuren sind lebendig und facettenreich gezeichnet. Mit Pias Handlungen war ich zum Ende hin immer weniger einverstanden, auch wenn ich ihre Unruhe verstand, ihre Handlungen aber nicht nur auf ihre traumatische Kindheit zurückführen konnte.
Jessica Lind erzählt in gefühlvoller und klarer Sprache, wie die eigene Kindheit in der neuen Familie, die man gründet, Raum einnehmen kann. Verhaltensweisen der Eltern werden übernommen oder ins Gegenteil umgekehrt. Es geht um Trauer, Schuld, fehlendes Vertrauen, Ausgrenzung, Mutter-Kind-Beziehung, zwischenmenschliche Beziehungen, Gerüchte und Verhaltensweisen. Manche Szenen sind düster und bereiten Gänsehaut.
Das Hauptaugenmerk liegt nicht, wie durch den Klappentext vermutet, in der Gegenwart, sondern eher im Vergangenheitsstrang. Dieser nimmt aber immer wieder Bezug zur aktuellen Handlung.
Das Setting war für mich spannend, weil ich selbst einige Jahre in Sankt Pölten gewohnt und auch gearbeitet habe. Viele Plätze waren für mich deshalb nicht fremd und ich hatte immer ein Bild vor Augen.
Erwähnenswert ist auch das interessante Cover mit dem Waldpanorama und dem See, der eine größere Rolle in der Geschichte spielt. Dazu ist das Bild wie ein Fenster geteilt, wo eine kleine Hand sich nach vorne schiebt. Man bekommt das Gefühl, dass dieses Kind das Fenster zu öffnen versucht.
Fazit:
Eine außergewöhnliche Geschichte auf nur 256 Seiten über Kindheitstraumata, Sprachlosigkeit und Selbstzweifel. Ich habe das Gefühl, dass dieser Roman noch lange nachhallen wird.
Die Autorin werde ich auf jeden Fall im Auge behalten und hoffen, dass sie bald in ihrer Heimatstadt eine Lesung abhalten wird.