Eindrucksvoller Roman
MEINE MEINUNG
Nach ihrem gefeierten Debütroman "Identitti" widmet sich Mithu Sanyal in "Antichristie" erneut hochaktuellen, brisanten Themen.
In diesem faszinierenden, vielschichtigen Roman beleuchtet ...
MEINE MEINUNG
Nach ihrem gefeierten Debütroman "Identitti" widmet sich Mithu Sanyal in "Antichristie" erneut hochaktuellen, brisanten Themen.
In diesem faszinierenden, vielschichtigen Roman beleuchtet Sanyal auf provokante, originelle und vor allem humorvolle Art den Kolonialismus, Identität und die Komplexität historischer Narrative.
Geschickt vermischt sie in ihrer fesselnden Geschichte Elemente des historischen Romans, Krimis und der Zeitreisefiktion.
Sanyal setzt sich facettenreich mit der kolonialen Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Gegenwart sowie Formen des Widerstands auseinander. Dabei schärft sie den Blick auf weniger beleuchtete Aspekte der indischen Unabhängigkeitsbewegung und hinterfragt nicht nur die Rolle von Gewalt gegen Unterdrückung und koloniale Strukturen, sondern auch die oft vereinfachte Darstellung historischer Figuren wie Gandhi und anderer einflussreicher, aber weniger bekannter Akteure.
Sie greift aktuelle gesellschaftliche Diskussionen auf und hinterfragt auf unbequeme Weise gängige Vorstellungen, ohne belehrend zu wirken. Kritisch beleuchtet Sanyal oberflächliche Betrachtungsweisen zur kolonialen Geschichte und zum Postkolonialismus, hält uns gleichzeitig einen Spiegel vor und regt zum Nachdenken an.
Gekonnt verwischt sie in ihrem Roman die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fiktion, aber auch persönlicher und kollektiver Geschichte.
Die Vielschichtigkeit der Erzählung und die Fülle an historischen und kulturellen Referenzen machen den Roman zu einem sehr anspruchsvollen, aber lohnenden Leseerlebnis. Nach einem durchaus herausfordernden Einstieg, der etwas Durchhaltevermögen erfordert, entwickelt die komplexe Geschichte zunehmend eine fesselnde Dynamik.
Die verschachtelten, genial miteinander verwobenen Zeitebenen schaffen eine komplexe Struktur, die der Autorin eine eingehende Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen politischen Themen und eine differenzierte Betrachtung von persönlicher und kollektiver Geschichte ermöglicht.
Angesiedelt ist die Geschichte im London des Jahres 2022, kurz nach dem Tod der Königin. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Protagonistin Durga, eine 50-jährige internationale Drehbuchautorin mit deutsch-indischen Wurzeln, die an einer woken Verfilmung der klassischen Agatha-Christie-Krimis mitwirken soll. Nach dem Tod ihrer Mutter findet sie sich plötzlich nicht nur im Jahr 1906 wieder sondern im Körper des jungen Inders Sanjeev. Auf ihrer unerwarteten Zeitreise trifft sie auf eine Gruppe indischer Revolutionäre, die im Gegensatz zu Gandhi nicht auf Gewaltlosigkeit setzen und sie mit zentralen Fragen des Widerstands gegen Unterdrückung konfrontiert.
Mit der Protagonistin Durga hat Sanyal eine faszinierende und sehr vielschichtige Figur geschaffen. Aufgrund ihrer deutsch-indischen Herkunft verkörpert sie selbst die Komplexität kultureller Zugehörigkeit. Ihre Reise durch die Zeit, ihr Genderwechsel sowie die Konfrontation mit verschiedenen Formen des Widerstands lassen sie eine interessante, tiefgreifende Charakterentwicklung durchlaufen.
Sanyals äußerst lebendiger Schreibstil ist sehr kreativ und unterhaltsam. Er ist durchsetzt mit Anglizismen und integriert geschickt verschiedene Textformen wie Dialoge, Tweets und Drehbuch-Auszüge. Hervorragend haben mir auch die zahlreichen Verweise auf Agatha Christie, Sherlock Holmes und Doctor Who gefallen.
FAZIT
Ein unglaublich komplexer und anspruchsvoller Roman über kulturelle Identität, die Komplexität historischer Narrative und die Auswirkungen des Kolonialismus auf die moderne Gesellschaft – unterhaltsam, lehrreich, gesellschaftskritisch und humorvoll! Ein beeindruckender Roman, der noch lange nachwirkt, zum Überdenken eigener Positionen anregt und zum erneuten Lesen anregt. Äußerst lesenswert!