REZENSION – Durch Romane wie „Unsere wunderbaren Jahre“ (2016) und dem Doppelband „Eine Familie in Deutschland“ (2018/2019) wurde der deutsche Schriftsteller Peter Prange (69) als Erzähler deutscher und europäischer Geschichte bekannt. Doch hatte er sich bisher mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst, widmet sich Prange in seinem kürzlich beim Scherz Verlag erschienenen Buch „Die Himmelsstürmer“, dem ersten Band seines zweiteiligen Romans „Herrliche Zeiten“, nun den spannenden Jahren nach Gründung des deutschen Kaiserreichs.
Kaum herrscht nach der Niederlage Frankreichs wieder Frieden in Europa, treffen 1871 im renommierten böhmischen Kurort Karlsbad drei junge Leute aufeinander: Die 17-jährige Victoria „Vicky“ Paxton-Stokes aus England, deren Großvater Joseph Paxton (1803-1865) für die erste Weltausstellung in London (1851) den berühmten Kristallpalast gebaut hatte, ist zu Gast im Grandhotel Pupp. Dort lernt sie den jungen Ingenieur Paul Biermann aus Berlin kennen, der den Bau des neuen Ballsaals leitet und dann am Aufbau der Weltausstellung 1873 in Wien mitwirken will, sowie den 25-jährigen Koch Auguste Escoffier (1846-1935) aus Paris, dessen Name später zum Inbegriff französischer Kochkunst wird. Die Lebenswege dieser drei jungen Leute, die im weiteren Leben über geographische und soziale Grenzen hinweg Freunde bleiben, bilden den roten Faden der über ein Vierteljahrhundert bis 1900 dauernden Romanhandlung.
Paul Biermann übernimmt nach dem Selbstmord seines Vaters die Baufirma, gewinnt die Gunst des Reichskanzlers Otto von Bismarck und erhält von ihm den Auftrag, die Prachtstraße Kurfürstendamm zu bauen. Auguste Escoffier schließt sich mit dem jungen Hotelier César Ritz (1850-1918) zusammen, arbeitet mit ihm im Londoner Luxushotel Savoy, bis beide sich 1897 mit dem Hotel Ritz in Paris und 1899 dem Hotel Carlton in London selbstständig machen. Vicky, reiche Erbin einer Eisenbahngesellschaft, verheiratet mit dem Eisenbahn-Magnaten Ruper Watkin, führt ein standesgemäßes Leben als Lady der Londoner Upper Class.
Prange zeigt auf gewohnt eindrucksvolle Weise im Ablauf seiner 670 Seiten umfassenden Handlung, wie seine drei Protagonisten, in jungen Jahren noch von Träumen und Idealen beseelt, durch politische Entwicklungen, private Intrigen und solche wirtschaftlicher Konkurrenten sowie sozialen Wandel ihrem Wirkungs- und Lebensdrang Grenzen gesetzt und Hoffnungen zerstört werden. In dem für seine Romane typisch lockeren Erzählstil stellt der Autor überaus detailreich die Einzelschicksale seiner Charaktere mit den historischen Ereignissen in direkten Zusammenhang. Von unbeschwerter Leichtigkeit wechselt der Roman bald in eine durch die Ambivalenz jener Zeit bedingte Dramatik: Dem völkerverbindenden Gedanken globalen Handels und Plänen einer Tunnelverbindung zwischen England und Frankreich stehen der wachsende Nationalismus und koloniale Wettkampf bei der Aufteilung Afrikas im Weg, von Karl Marx in der Arbeiterschaft verbreitetes sozialistisches Gedankengut und die emanzipatorische Frauenrechtsbewegung sorgen für gesellschaftlichen Wandel, der die Eltern- und Kindergeneration zunehmend trennt. Von der einstigen Aufbruchstimmung der Gründerjahre ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch etwas zu spüren. Prange schafft es ausgezeichnet, bei aller erzählerischer Freiheit der drei Familiengeschichten die komplexen historischen Fakten in ihrer politischen Entwicklung in die Handlung sinnvoll einzuarbeiten, ohne Brüche entstehen zu lassen.
Der lockere Erzählstil des Romans mag manche Leser täuschen und vielleicht verleiten, ihn als Unterhaltungsroman zu deklassieren. Doch wäre dies leichtfertig. Denn blendet man die vordergründigen Lebensgeschichten der drei Familien Paxton, Biermann und Escoffier aus, in denen sich die politische und gesellschaftliche Entwicklung jener Jahrzehnte spiegelt, bleibt ein Roman, der nicht nur deutsche und europäische Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts faktenreich und dennoch leicht verständlich vermittelt, sondern in seinem politischen Kern durchaus als Warnung an uns verstanden werden kann: Das junge Europa, erst vor wenigen Jahrzehnten in Frieden vereint und angeführt von den drei führenden Handels- und Industrieländern Deutschland, Großbritannien und Frankreich, wird durch Machtstreben der Regierenden sowie durch zunehmenden Rechtspopulismus und Nationalismus in seinem noch fragilen Bestand gefährdet. Ein nächster Krieg – von dem wir als Nachgeborene bereits wissen – scheint unausweichlich. Wir sollten aus der Geschichte gelernt haben.