Eine Pflegerin, eine Karrierefrau und eine kluge Gesellschaftskritik
"...weder die Alten noch die Pflegenden sind je hier gewesen, es sind die Angehörigen, die hier die Verbindungen knüpfen und die Fäden ziehen. Es sind Klara selbst und die blonde Frau, die mit verschränkten ...
"...weder die Alten noch die Pflegenden sind je hier gewesen, es sind die Angehörigen, die hier die Verbindungen knüpfen und die Fäden ziehen. Es sind Klara selbst und die blonde Frau, die mit verschränkten Armen vor ihr sitzt, die hier Entscheidungen treffen, wie zwei Schachspieler sitzen sie einander gegenüber, bewegen die Figuren auf dem Schachbrett, werfen sie raus, tauschen sie ein." Buchzitat S. 58 (E-Book)
In ihrem Roman „Halbe Leben“ beleuchtet Susanne Gregor die ungleichen Lebensrealitäten zweier Frauen: Klara, eine wohlhabende Karrierefrau, und Paulína, ihre slowakische Pflegerin. Die 1981 in der Tschechoslowakei geborene Autorin kam 1990 nach Österreich und wurde bereits mehrfach für ihre literarischen Werke ausgezeichnet. In klarer Sprache erzählt sie in diesem Roman von Klassengegensätzen, Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen.
Worum geht’s genau?
Nach dem Schlaganfall ihrer Mutter engagiert Klara Paulína als Pflegerin. Eine scheinbar perfekte Lösung – Klara kann sich wieder ihrer Karriere widmen, während Paulína ihre eigenen Kinder in der Slowakei zurücklässt. Sie wird geschätzt, erhält großzügige Geschenke – fast wie eine Freundin, oder? Doch dann stürzt Klara beim Wandern in den Tod, und es bleiben viele unbeantwortete Fragen.
Gregor erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, unter anderem aus der Sicht von Paulína, ihrer Söhne und Klaras Familie. Dabei wird die ungleiche Beziehung zwischen den beiden Frauen zunehmend spürbar. Was als pragmatische Lösung beginnt, entpuppt sich als vielschichtige Auseinandersetzung mit Abhängigkeiten und Privilegien.
Meine Meinung
Das Buch war für mich ein Überraschungshit. Der Klappentext hat mich sofort angesprochen, und ich wurde nicht enttäuscht. Der Schreibstil ist einfach, direkt und lässt sich gut nachvollziehen. Die klare Sprache unterstreicht die Gegensätze zwischen den Frauen und bringt die Thematik präzise auf den Punkt.
Besonders beeindruckt hat mich die unterschwellige Spannung, die sich über den gesamten Roman aufbaut. Obwohl von Anfang an klar ist, dass Klara sterben wird, bleibt vieles ungewiss und klärt sich erst gegen Ende auf. Die Dynamik zwischen Klara und Paulína ist eindringlich dargestellt – gerade Klaras fast naive Art im Umgang mit Paulína hat bei mir mit der Zeit Fremdscham und sogar Wut ausgelöst. Der unbewusste Hochmut, mit dem sie ihrer Pflegerin begegnet, zeigt eindrucksvoll, wie Privilegien das Verhalten beeinflussen.
Die Kluft zwischen den beiden Frauen wird von Gregor geschickt herausgearbeitet: Einerseits scheint sie oberflächlich betrachtet gar nicht so groß – beide sind Frauen, beide Mütter im gleichen Alter. Doch in Wahrheit trennen sie Welten. Während Klara durch ihren Wohlstand abgesichert ist, kämpft Paulína um ihre Existenz, lebt als unsichtbare Arbeitskraft im Haushalt der Familie und bleibt trotz Nähe eine Fremde.
Ein weiteres Highlight für mich war die multiperspektivische Erzählweise. Besonders die Abschnitte aus der Sicht von Paulínas Kindern oder Klaras Mutter haben das Bild erweitert und die Tragweite der Ereignisse noch greifbarer gemacht.
Kleine Kritikpunkte gibt es dennoch: Für fünf Sterne hat es nicht gereicht, weil nicht gegendert wurde und weil die direkte Rede nicht in Anführungszeichen steht – daran musste ich mich erst gewöhnen. Auch die Einteilung in nur drei große Kapitel hat mich zu Beginn irritiert. Das Ende hat mich zudem etwas unbefriedigt zurückgelassen – ich hätte mir noch mehr Details zur Auflösung und zum weiteren Verlauf der Geschichten der Beteiligten gewünscht. Doch im Grunde kann man sich selbst gut denken, wie es weitergeht.
Fazit
„Halbe Leben“ ist ein eindrucksvoller Roman über Klassenunterschiede, Machtverhältnisse und das, was Menschen verbindet – oder trennt. Gregor schafft es, mit leisen Zwischentönen viel zu vermitteln und eine unterschwellige Spannung aufzubauen, die mich durch das ganze Buch getragen hat. Trotz kleiner stilistischer Hürden war ich durchgehend gefesselt. Eine klare Empfehlung – 4,5 von 5 Sternen.