Ein Tag im stalinistischen Arbeitslager
Iwan Denissowitsch war einst ein ganz normaler Zimmermann, wie es tausende in der Sowjetunion gab, doch nach einer absurden Anklage und einem noch absurderen Prozess wird er zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. ...
Iwan Denissowitsch war einst ein ganz normaler Zimmermann, wie es tausende in der Sowjetunion gab, doch nach einer absurden Anklage und einem noch absurderen Prozess wird er zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Diese verbringt er in einem Sonderlager irgendwo in Sibirien. Das Buch begleitet Denissowitsch nun einen ganz normalen Tag lang, vom Aufstehen um 5 Uhr in der Früh, bis hin zum Schlafengehen um 21 Uhr.
Ich musste das Buch für die Schule lesen, und wusste insofern nicht ganz, was mich erwarten würde, da das Buch von Solschenizyn nicht meinem sonstigem Beuteschema entspricht. Meine Erwartungen gingen in Richtung eines emotionalen Berichtes über einen Tag im Lagerleben in der Sowjetunion der unmittelbaren Nachkriegszeit, bei dem allerdings mit allzu blutigen Details gespart werden würde. Meine Erwartungen wurden in dieser Hinsicht allerdings nur teilweise erfüllt. Bei meiner Ausgabe ist ein Vorwort – zwar nicht vom Autor persönlich, aber vom Chefredakteur der Zeitung, bei der die Originalausgabe des Romans erschien – abgedruckt, in dem unter anderem erklärt wird, dass der Tag im Leben des titelgebenden Protagonisten nicht auf irgendeine Weiße besonders ungewöhnlich war, sondern ein Tag, wie er und seine Mithäftlinge ihn tausendfach erlebten. Insofern konnte ich nun wirklich nicht mehr mit Dingen wie einem Lagerausbruch, einer Seuche oder der Massenhinrichtung von Lagerinsassen rechnen. Wie mir das Buch nun gefallen hat, kann ich nun, kurz nachdem ich es beendet habe, nicht eindeutig klären. Meine Gedanken sind immer noch am Kreisen, da es einige Dinge gegeben hat, die mir besonders gut gefallen haben, die mich zum Nachdenken angeregt haben, die mich schmunzeln ließen und die mich schlicht und einfach inspiriert haben. Dem entgegen gab es aber auch Dinge, die mich an der Geschichte störten, teilweise gar nicht nach meinem Geschmack waren, aber auch Dinge, die meinen Lesefluss stellenweise auch behinderten. Ich glaube, dass mir am Meisten an der Geschichte gefallen hat, dass der Protagonist, der die Leserinnen und Leser durch den Tag begleitet, unverfälscht ehrlich ist, und diese Ehrlichkeit im Angesicht der Tatsache, dass sein Leben seit Jahren nicht mehr so läuft, wie er es sich vorstellt und es eigentlich jeden Moment mit ihm aus sein könnte, ohne, dass er jemals wieder das Leben außerhalb der Stacheldrahtbegrenzung erleben würde, nicht verliert. Alle paar Seiten kam ich zu einer neuen Stelle, bei der Denissowitsch einen Satz sagt, einen Gedanken denkt, der scheinbar von so simpler Banalität ist, und mich doch mit seiner klaren Weisheit und seiner schonungslosen Wahrheit im Lesen innehalten lies, und mich darüber nachdenken lies, inwiefern diese eine Sekunde aus dem alltäglichen Lagerleben in den Fünfzigerjahren, von einer Person, die nicht einmal ansatzweise etwas mit mir zu tun hat – abgesehen von der Tatsache, dass wir uns beide dem binären männlichen Geschlecht zuordnen, mich in meinem Alltag beeinflusst und ob eine Tatsache, die vor rund 70 Jahren Gültigkeit hatte, auch heute noch gültig ist. Kurz gesagt, ohne noch weiter ausschweifen zu wollen, hat mich einfach die erbarmungslose Ehrlichkeit des Hauptcharakters komplett überrascht und mich mehr und mehr begeistern können. Hatte mich der Autor nun mit seiner Kunst, was die Gestaltung der Gedanken und Gefühlswelt seines Protagonisten angeht, komplett überzeugen können, war ich leider vom Schreibstil des Autors und dem sprachlichen Stil des Buches auf weiter Länge enttäuscht. Dieser ist nämlich so trocken, wie ein eisiger Windstoß aus den unendlichen Weiten Sibiriens, um mich mit einer abstrus kitschigen Anspielung auf den Handlungsort der Geschichte auszudrücken. Gelinde gesagt entsprach mir der sprachliche Stil ganz und gar nicht. Zwar bin ich eigentlich ein Fan von eher anspruchsvoll geschriebenen Geschichten, allerdings fehlte mir bei dieser hier einfach die Vielfalt und der Facettenreichtum zwischen den Zeilen, um die Geschichte in all ihren Farben, Klängen und Gerüchen vor meinen Augen auferstehen zu lassen. Einfach ein Schreibstil, wie ich ihn von meinen Lieblingsautoren Julien Green oder André Aciman gewohnt bin. Süffig und schwer, wie ein alle Sinne betäubender Sommerwein. Es war zwar nicht so, dass ich mir die Schilderungen des Lagerlebens nicht vorstellen konnte. Keineswegs. Doch mir fehlte einfach etwas, das es wert war, den langen Atem des Buches auch wirklich auszukosten.
Müsste ich mich nun letztendlich auf eine endgültige Meinung festlegen, würde ich sagen, dass, nachdem ich die positiven und negativen Aspekte des Romanes gegeneinander abgewogen habe, mir Ein Tag im Leben Iwan Denissowitsch mittelmäßig gefallen hat. In Sternen ausgedrückt wäre das dann wohl die goldene Mitte.