Papier, das nach Erzählfreude duftet
Irgendwann zwischen 1930 und 1950. Wann genau, ist doch egal. Im Grunde ist auch egal, wo genau (wenn man mal davon absieht, dass Hintergründe aus jener Zeit erzählungsspezifisch relevant sein könnten). ...
Irgendwann zwischen 1930 und 1950. Wann genau, ist doch egal. Im Grunde ist auch egal, wo genau (wenn man mal davon absieht, dass Hintergründe aus jener Zeit erzählungsspezifisch relevant sein könnten). Fünfzehn Erzählungen handeln davon, erwachsen zu werden und Selbstständigkeit zu erlangen, hinter die Fassaden des täglichen Lebens zu schauen. In ihrer Heimat wurde die Autorin mit dieser ersten Kurzgeschichtensammlung berühmt, erst vor wenigen Jahren kam die deutsche Übersetzung daher. Einfach so.
Stile unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, da steht das Geschlecht des Autors als Kriterium eher an einer hinteren Stelle.
Bei Alice Munro, der Literaturnobelpreisträgerin im Jahr 2013, macht es umso mehr aus. Jede Erzählung, auch wenn mal keine Frau Protagonistin ist, hat etwas umwerfend Feminines an sich. Womöglich ist es auch die grazile Feinheit, mit welcher jedes Wort an seinen optimalen Platz gerückt wurde. Oder ist es die noch lange nachhallende Stille im Anschluss an jede Handlung, beinahe wie der Vorwurf einer nachtragenden Erzählerin im Anschluss an ein klärendes Gespräch? Was das angeht, bin ich mir jedenfalls sicher: Man könnte einem eine ganz andere Geschichte vorlegen; nach wenigem Lesen weiß man genau, ob es sich um ein Munrosches Werk handelt.
Keine Action, kein Blutvergießen, kein großes Drama. Mit diesem Band hält man gewissermaßen eine Kostbarkeit in den Händen, einen Zeugen hoher, sehr, sehr hoher literarischer Kunst. Nietzsche hat mal etwas geschrieben. Also, eigentlich recht viel.
Und ich kenne den genauen Wortlaut auch längst nicht mehr.
Es ging um Schlichtes und Sensationelles, den Unterschied zwischen einem wahren Künstler und einem, der eigentlich gar nichts drauf hat - abgesehen von Zahnbelag vielleicht, aber der Witz ist veraltet und wirkungslos geworden. Ein Möchtegern braucht Sensationelles, Ungewöhnliches und vom Hocher Reißendes, denn nur dann gebührt seinem Schaffen eine Aufmerksamkeit: nur so betrachtet man überhaupt sein Werk. Ein wahrer Künstler ist aus dieser Phase bereits hinausgewachsen; ihm reicht der Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens, das Alltägliche. Daraus schafft er, was dem Möchtegern verwehrt bleibt.
Alice Munro ist so ein Möchtegern. Reingelegt. Alice Munro ist eine wahre Künstlerin. Dass sie das einmal werden würde, ist schon in diesem Debütband, dessen Erzählungen erstmals 1968 zusammen erschienen sind, klar zu erkennen.
Ich finde die Lektüre beinahe frustrierend, denn wie soll man jemals an ihre scheinbare Mühelosigkeit, ihre offene, widersprüchliche und doch vollkommen widerspruchslose Eleganz herankommen? Jede Geschichte ist federleicht und doch schwer genug, dass sie eines lauen Abends vom Himmel auf die trostlose Erde herabgeschwebt kam. So kommt es einem vor. Trotzdem hallt in ihnen das irdische Leben wider: Erwachsenwerden, Emanzipation, diffizile Verhältnisse, der eigene Stellenwert in Gesellschaft und Familie. Autobiografische Details (wie das Leben auf einer Fuchsfarm) garantieren eine ausnahmslos glaubhafte Szenerie.
Was mich als Leser jedoch am meisten faszinierte, waren gar nicht mal die Erzählungen an sich. Hauptsächlich blieb mir hinterher die Liebe zu ihnen in Erinnerung, nach der die Buchseiten förmlich gerochen haben. Als gehörten sie alle zu einer großen Familie.