Von der Liebe einer Mutter
Remember MiaWer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man ...
Wer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man so will. Schnell kommt man zu dem Schluss, das Paradebeispiel einer schlechten Mutter vor sich zu haben. Wenn das Baby nun spurlos verschwindet und Estelle, scheinbar ohne jegliche Erinnerung, es der Polizei nicht gemeldet, sondern die Beweismittel beseitigt hat? Wenn man ihr das Irre schon an den Augen ablesen kann und sie in einer Schlucht gefunden wird, offensichtlich, weil sie sich das Leben nehmen wollte? Wer hielte sie dann nicht für die kaltblütige Mörderin ihres eigenen Kindes – zumal sie sich selbst nicht ganz sicher ist...
Was ist mit Mia passiert? Vordergründig beschäftigt sich die Geschichte mit der Klärung dieser Frage. Aber vielmehr noch geht es um den Prozess des Erinnerns. Und ganz besonders darum, dass eine Mutter lernt, die eigene Verantwortung nicht in Form von grenzenloser Schuld auf den Schultern mit sich herumzutragen. Um Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in andere. Letztlich auch darum, Probleme und Anliegen anderer mit der nötigen Anerkennung und einem selbstverständlichen Respekt gegenüberzutreten: so verrückt sie auch scheinen.
Spannung wird hier sehr allmählich aufgebaut, mit so viel Vor- und Nachbereitung, dass der Weg zum Maximum und wieder hinunter etwas zäh ist. Man stelle sich jedoch den Mount Everest vor, da ist es ja genau dasselbe. Der Blick von ganz oben ist es, weshalb man erst raufgestiegen ist. Seinetwegen lohnt sich die Mühe. Der Berg "Remember Mia" ist allerdings nicht ganz so hoch (das wäre wohl allzu gigantisch).
Deshalb bin ich erleichtert, dass – obwohl es noch möglich gewesen wäre – nicht weitere Hintergründe, ein Epilog, Perspektivwechsel, hinzugekommen sind. Das hätte die Handlung wirklich trüb werden lassen und meinen persönlichen Vorstellungen von einem Thriller nicht mehr
entsprochen.
Die Figuren sind schlüssig und mehr oder weniger detailliert ausgearbeitet, je nach Relevanz der Person für die Geschichte. Man verliert nie ganz das Misstrauen gegenüber Estelle, ebenso wenig wie sie selbst, was ich genial finde. Das liegt daran, dass man sie nie allzu genau kennenlernt. Wer weiß, vielleicht verbirgt sich doch ein Psychokiller hinter der hilflosen Fassade einer überforderten Frau? Ein Gedanke, den die Autorin geschickt aufrechtzuerhalten weiß.
Die Sprache ist einfach und schnörkellos. So überlässt sie größtenteils der Handlung das Feld, wenn es um Tiefe und Interpretationen geht. Vor jedem der vier Teile, in die der Text grob gegliedert ist, werden jedoch Zitate von Lewis Carroll aufgeführt; aus den Werken "Alice im Wunderland" und "Durch den Spiegel". So bleibt der Phantasie zumindest ein kleiner Spielraum, metaphorische Parallelen zu finden, oder sich mit der Erinnerung, Verrücktheit, Vorstellungskraft an sich auseinanderzusetzen.
Die grausige Darstellung von Mias Geschrei wirkte zunächst wie eine Aufforderung, sich niemals Kinder anzuschaffen (wobei mein Wortlaut wirkt, als spräche ich von einem Hund oder einer Kommode). Es wird aber zügig klar, dass genau das Gegenteil angestrebt worden ist: Eine Hommage an das Muttersein, an die grenzenlose Liebe, die nur Mütter empfinden können.
Insgesamt ein wirklich gelungener Thriller, wobei der Höhepunkt der Spannung der Vorbereitung und dem Abflauen derselben nicht hundertprozentig gerecht geworden ist. Da kann man es wohl keinem gerecht machen, denn während ich mir möglichst viel Interpretationsspielraum wünsche, bevorzugen andere es, jedes Detail, jeden Werdegang so zu erfahren, wie es sich die Autorin (oder der Autor, allgemeiner formuliert) selbst vorstellt. Insofern wurde ein solides Mittelding gefunden.