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Veröffentlicht am 15.09.2016

Von der Liebe einer Mutter

Remember Mia
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Wer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man ...

Wer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man so will. Schnell kommt man zu dem Schluss, das Paradebeispiel einer schlechten Mutter vor sich zu haben. Wenn das Baby nun spurlos verschwindet und Estelle, scheinbar ohne jegliche Erinnerung, es der Polizei nicht gemeldet, sondern die Beweismittel beseitigt hat? Wenn man ihr das Irre schon an den Augen ablesen kann und sie in einer Schlucht gefunden wird, offensichtlich, weil sie sich das Leben nehmen wollte? Wer hielte sie dann nicht für die kaltblütige Mörderin ihres eigenen Kindes – zumal sie sich selbst nicht ganz sicher ist...

Was ist mit Mia passiert? Vordergründig beschäftigt sich die Geschichte mit der Klärung dieser Frage. Aber vielmehr noch geht es um den Prozess des Erinnerns. Und ganz besonders darum, dass eine Mutter lernt, die eigene Verantwortung nicht in Form von grenzenloser Schuld auf den Schultern mit sich herumzutragen. Um Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in andere. Letztlich auch darum, Probleme und Anliegen anderer mit der nötigen Anerkennung und einem selbstverständlichen Respekt gegenüberzutreten: so verrückt sie auch scheinen.

Spannung wird hier sehr allmählich aufgebaut, mit so viel Vor- und Nachbereitung, dass der Weg zum Maximum und wieder hinunter etwas zäh ist. Man stelle sich jedoch den Mount Everest vor, da ist es ja genau dasselbe. Der Blick von ganz oben ist es, weshalb man erst raufgestiegen ist. Seinetwegen lohnt sich die Mühe. Der Berg "Remember Mia" ist allerdings nicht ganz so hoch (das wäre wohl allzu gigantisch).
Deshalb bin ich erleichtert, dass – obwohl es noch möglich gewesen wäre – nicht weitere Hintergründe, ein Epilog, Perspektivwechsel, hinzugekommen sind. Das hätte die Handlung wirklich trüb werden lassen und meinen persönlichen Vorstellungen von einem Thriller nicht mehr
entsprochen.

Die Figuren sind schlüssig und mehr oder weniger detailliert ausgearbeitet, je nach Relevanz der Person für die Geschichte. Man verliert nie ganz das Misstrauen gegenüber Estelle, ebenso wenig wie sie selbst, was ich genial finde. Das liegt daran, dass man sie nie allzu genau kennenlernt. Wer weiß, vielleicht verbirgt sich doch ein Psychokiller hinter der hilflosen Fassade einer überforderten Frau? Ein Gedanke, den die Autorin geschickt aufrechtzuerhalten weiß.

Die Sprache ist einfach und schnörkellos. So überlässt sie größtenteils der Handlung das Feld, wenn es um Tiefe und Interpretationen geht. Vor jedem der vier Teile, in die der Text grob gegliedert ist, werden jedoch Zitate von Lewis Carroll aufgeführt; aus den Werken "Alice im Wunderland" und "Durch den Spiegel". So bleibt der Phantasie zumindest ein kleiner Spielraum, metaphorische Parallelen zu finden, oder sich mit der Erinnerung, Verrücktheit, Vorstellungskraft an sich auseinanderzusetzen.

Die grausige Darstellung von Mias Geschrei wirkte zunächst wie eine Aufforderung, sich niemals Kinder anzuschaffen (wobei mein Wortlaut wirkt, als spräche ich von einem Hund oder einer Kommode). Es wird aber zügig klar, dass genau das Gegenteil angestrebt worden ist: Eine Hommage an das Muttersein, an die grenzenlose Liebe, die nur Mütter empfinden können.

Insgesamt ein wirklich gelungener Thriller, wobei der Höhepunkt der Spannung der Vorbereitung und dem Abflauen derselben nicht hundertprozentig gerecht geworden ist. Da kann man es wohl keinem gerecht machen, denn während ich mir möglichst viel Interpretationsspielraum wünsche, bevorzugen andere es, jedes Detail, jeden Werdegang so zu erfahren, wie es sich die Autorin (oder der Autor, allgemeiner formuliert) selbst vorstellt. Insofern wurde ein solides Mittelding gefunden.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein unvergleichliches Meisterwerk

1Q84 (Buch 1, 2)
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Bei dieser Rezension sei gewarnt: Vorsicht, Überschwänglichkeit (denn ich bin verliebt in 1Q84).

Das hier hat nichts mit dem einfachen Entschwinden von Realität zu tun, auch nicht mit dem Vermischen mehrerer. ...

Bei dieser Rezension sei gewarnt: Vorsicht, Überschwänglichkeit (denn ich bin verliebt in 1Q84).

Das hier hat nichts mit dem einfachen Entschwinden von Realität zu tun, auch nicht mit dem Vermischen mehrerer. Und wenn man glaubt, der einen Realität zu entschwinden, weil man in den Sog einer anderen gerät, was sind die Informationen wert, die man in mühseliger Lebenszeit angehäuft hat?

Eine Liebesgeschichte über Zufall und Schicksal, über die vielen Facetten eines Urteils, über die Macht einzelner Wesen über andere. Ist unsere heimliche, intime und ganz eigene Realität womöglich ebenso real und offensichtlich wie die uns bekannte? Ich will keineswegs eine genaue Beschreibung der Handlung geben. So ist sie mit der wirklichen Unvorhersehbarkeit unseres Lebens vergleichbar.

Das beste Buch, welches ich seit langem, langem gelesen habe.

Ich glaube kaum, mit einer Bewertung diesem Werk je gerecht werden zu können. Genauso hoffe ich inständig, dass meine Überschwänglichkeit ihm nichts von seinem Zauber nehmen wird.
Längst ist Murakami kein Geheimtipp mehr. Ich schäme mich beinahe dafür, dass ich erst durch einen Wink meiner ehemaligen Deutschlehrerin auf ihn aufmerksam geworden bin.

Spätestens seit der Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki sollte eigentlich jeder den Autor kennen, von dem viele Stimmen bedauern, dass er den Literaturnobelpreis nicht bekommen hat.
1Q84 ist nicht nur, wie vorschnelle Zungen laut werden lassen, schlicht eine Hommage an Orwells 1984:

Es ist, als würde die Zukunftsvision aus der Vergangenheit seine Klauen verschränken mit der Vision einer parallelen Realität von der Vergangenheit - aus der Gegenwart. Und sogar der Sex, der meiner Meinung nach bei übermäßigem Vorhandensein in Romanen ein Risikofaktor ist, schafft es, unaufdringlich zu sein, nicht nach Aufmerksamkeit zu heischen, obwohl er durchaus präsent ist und die vorherrschende Atmosphäre in bestimmte Bahnen lenkt.

Alles greift irgendwie verworren ineinander über, verworren und doch mit so perfekter Zielgenauigkeit, dass man das Unbehagen eines Beobachteten fühlt.

Die Charaktere sind echt, davon bin ich überzeugt, es muss sie wirklich geben: Wie sonst könnte ich ihren Atem im Nacken spüren? Sie sind anwesend und ich lerne sie kennen, wie sie auch mich kennenzulernen scheinen.

Es geht eine düstere Faszination von den ersten beiden Teilen aus, und trotz vieler Wiederholungen werden die Augen nicht satt. Das Gehirn ebenso wenig. Und was sonst noch so eine Rolle spielt. Sicherlich auch die Nieren.

Die Erwartungen liegen nun verdammt hoch, was den dritten (und letzten) Teil betrifft. Vielleicht verderbe ich hierdurch auch vielen zukünftigen Lesern den Spaß am Roman. Das meinte ich eben mit der Überschwänglichkeit. So viel sei also gesagt: Dieses Buch ist echt mies, kauft es trotzdem.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Auf dass die Fernsehgeräte schmoren!

Reality-Show
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Ein weiterer Roman über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele

Folgende Grausamkeit erweist sich als die beste Produktionsidee in der Geschichte des Fernsehens (und aller anderen Medien): Gecastete ...

Ein weiterer Roman über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele

Folgende Grausamkeit erweist sich als die beste Produktionsidee in der Geschichte des Fernsehens (und aller anderen Medien): Gecastete Aufseher wachen auf brutalste Weise über Gefangene eines Lagers, kommandieren sie herum, entscheiden über deren Leben - oder Tod.

Helden der Show sind die ausgemergelten Gefangenen, die wissen, dass sie hier sterben werden. Umso verlockender für das Publikum, dass es per Fernbedienung täglich zwei ihrer Lieblinge für die Show opfern kann.

Nothomb wurde für ihre außergewöhnlichen Werke bereist vielfach ausgezeichnet. Unverkennbar ist ihr oft morbider Zynismus, der auch im vorliegenden Werk für die richtige Würze verantwortlich ist.

Man merkt schon, dass die Autorin privat ihre Freunde am liebsten auf dem Friedhof trifft, es blickt einfach durch. So passen ihre Pointen vollkommen natürlich ins Bild: Sie fühlt sich wohl auf dem Gebiet der bitterbösen Menschlichkeit.

Ich habe durchaus schon vernichtende Kritik zu Reality-Show gelesen, die sich hauptsächlich an den minimalistischen Schreibstil klammerten. Der führt beinahe unweigerlich dazu, dass dem Leser die Aufgabe gegeben wird, selbstständig Bruchstücke zu nutzen und besonders feinfühlig solche zu Persönlichkeiten zusammenzusetzen. Die Charaktere halte ich somit absolut nicht für flach oder seelenlos. Sie sind, was der Leser aus ihnen macht, so wie die Grausamkeit der Show mit dem Namen Konzentration ist, was das Publikum von der Show verlangt (wenn auch zum Teil unbewusst).

Zugegebenermaßen entspricht dieses Werk der Autorin, vermutlich weniger als ihre anderen Arbeiten, nicht unbedingt den Lesebedürfnissen der breiten Masse. Viele Leser sind, verständlicherweise, denkfaul. Sie wollen ein gemachtes Nest mit ausgereiften Figuren. Schließlich sind sie die Konsumenten, nicht selber die Autoren. Gerade auch weil es sich um ein seitenarmes Buch handelt, erwartet der Leser nicht wirklich, sein eigenes schöpferisches Talent nutzen zu müssen.

Nothomb hätte locker drei- bis vierhundert Seiten Reality-Show schreiben können. Wie der Titel aber schon sagt, ist die Handlung so realitätsnah, sind die Charaktere so typisch, dass nur die Zutatenliste erforderlich ist, um zu wissen, wie der Eintopf gekocht werden muss. Es ist nicht erforderlich, zu erklären, dass es sich um diese spezielle Art von Eintopf handelt, die man eigentlich zu jeder Gelegenheit servieren kann.

Wenn man meint, die Unglaubwürdigkeit dieses raffinierten Werkes beweisen zu können, muss man vor idiotischen Fernsehsendungen wie Promi-Big-Brother die Schweinsäuglein verschließen. Dazu kommt, dass sogar eine Utopia-Show geplant ist. Quasi noch eine experimentelle Schippe drauf. Man nutzt die Natur willenloser und geldhungriger Menschen, um aus ihnen Versuchskaninchen für die eigenen unglaublichen Versuche zu machen. Solange es Zuschauer gibt, gibt es auch Freiwillige, die sich erniedrigen lassen. Solange es Zuschauer gibt, ist die Art dieser Erniedrigung ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Nicht unbedingt unvergesslich, aber auch nicht übel.

Einfach unvergesslich
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Claire findet, dass sie im Grunde zu alt ist für ihren Ehemann Greg. Sogar Caitlin, ihre Tochter, meint, es wäre logischer, wenn sie selbst mit ihm eine Beziehung führte - nicht, dass sie es so wollte. ...

Claire findet, dass sie im Grunde zu alt ist für ihren Ehemann Greg. Sogar Caitlin, ihre Tochter, meint, es wäre logischer, wenn sie selbst mit ihm eine Beziehung führte - nicht, dass sie es so wollte. Niemals. Aber theoretisch?
Nun ist es vollkommen egal, wofür Claire zu alt ist. Für eines ist sie unumstritten zu jung: Alzheimer. Der Nebel, der sich in ihrem Geist ausbreitet, ein ihr verhasster, dicker Nebel, findet das ganz und gar nicht.

Ein weiterer Roman über die Tücken des Vergessens.

Alzheimer lässt uns alle schaudern, egal, ob wir bereits Umgang mit Patienten hatten, jemand Betroffenes in der Familie, oder ob wir uns einfach vorstellen: Was wäre, wenn?

Insofern lässt sich trocken behaupten, dass dieses Thema für eine Geschichte, die unter die Haut gehen soll, schon einmal die beste Grundlage bietet. Geht immer. Und ist auch immer irgendwie faszinierend. Inwieweit die geschilderten medizinischen Umstände der Wahrheit entsprechen, kann ich als Laie kaum beantworten. Für mich klang das alles ganz glaubwürdig. Aber wie soll ich das objektiv bewerten? Immerhin haben sogar mir die Tränendrüsen gejuckt.

Eine sehr einfache, flüssige Sprache mit einem bisschen "hyper" und "mega" zeichnet den Roman wie ein Jugendbuch aus. (Nein, nicht wie schlechte Techno-Töne.) Dadurch werden Perspektivwechsel zwar gestützt und angereichert, der Gesamtanspruch liegt jedoch somit lediglich bei dem Thema der Demenz, weniger bei der literarischen Darstellung. Im Grunde lernt man über Demenz auch kaum etwas. Muss man das denn? Das kann man so oder so sehen. Die aufgebauten Emotionen gehen hier jedenfalls ganz unverblümt auf den Leser über, zugleich mutet die Atmosphäre so typisch und alltäglich an, dass man sich umso besser in die Rolle der Protagonisten hineinversetzen kann. Das ist für einen Roman, der von den (unterdrückten) Tränchen der Leser lebt, entscheidend. Außerdem denkt ein Mensch, dessen Geist dem Verfall unterliegt, zunehmend einfacher. Bei Claire ist es sogar so, dass sie sich in ihre Jugendzeit zurückversetzt fühlt und sich an frische Liebe klammert, vom Simpelsten lebt und überlebt. Sie weist immer mehr Parallelen zu ihren beiden Töchtern auf.

Wenn nun aus Caitlins Sicht erzählt wird, die typische Mädchen-Jugendbuch-Probleme hat, und dann aus der Sicht ihrer kranken Mutter, die nun ebensolche Probleme zu haben denkt, sind die Perspektiven und Erinnerungen von Oma Ruth und Greg frischer Wind. Irgendwie erwachsene Luftbläschen. Die Autorin schafft hier einen wirklich notwendigen Ausgleich.

Was das Ende angeht, von dem hier nichts verraten wird: Ich halte es für einen Hauch in die Länge gezogen. Als ich den "Das war's"-Moment hatte, diesen Seufzer, auf den normalerweise ein Buchzuklappen folgt, ging es noch weiter. Aber das ist nicht weiter wichtig, wenn man bedenkt, dass womöglich andere Leser diesen seltsamen "Das war's"-Moment genau dann haben, wenn es das auch wirklich war. Ich mag es nur nicht, wenn man sich an einem Punkt alle möglichen bisher offenen Fragen selber beantworten kann und dann trotzdem eine Erklärung auf alles folgt. Es sei denn, es handelt sich um einen Krimi, denn da liege ich meistens falsch.

Was diesen Roman vor allem ausmacht, ist nicht die Tragik seines Krankheitsthemas. Vielmehr scheint er eine Hommage an Liebe und Familienverbundenheit zu sein. Coleman schreibt über die eigentümliche Liebenswürdigkeit von Frauen in verschiedenen Generationen; dass sie einander ebenso ähneln wie sie sich unterscheiden, und dass eben hier die Quelle des starken Zusammenhalts liegt, stärker sogar als unüberwindbare Schicksalsschläge. All das bewerkstelligt Rowan Coleman hier mit einem zarten Humor insgesamt wunderbar - da darf die Sprache ruhig etwas einfacher sein.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Zum Anbeißen!

Madame Mallory und der Duft von Curry
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Ein Roman, der an die Geschmacksnerven geht.

Hassan erblickt nicht nur einfach das Licht der Welt, er erschnüffelt es. Nein, nicht wie ein Hund. Auch nicht wie Grenouille, nicht einmal annähernd. Also ...

Ein Roman, der an die Geschmacksnerven geht.

Hassan erblickt nicht nur einfach das Licht der Welt, er erschnüffelt es. Nein, nicht wie ein Hund. Auch nicht wie Grenouille, nicht einmal annähernd. Also noch einmal von vorn: Als Hassan geboren wird, seine Sinne für die Welt geöffnet werden, untermalt der Duft scharfen Currys die Szene. Das prägt maßgeblich sein späteres Lebens als Koch, ist aber keineswegs der Grund für sein unglaubliches Talent (er hat es einfach): ein seltenes Gespür dafür, was wirklich schmeckt und wie man es zubereitet. Zufällig treibt das Schicksal seine Familie aus ihrer Heimat und quer durch Europa, zu einer kulinarischen Reise der Extraklasse. Haften bleibt unser Protagonist in Frankreich, wo seine Gabe sich erst entfalten kann. Dies ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Karriere.

Das Cover und die Form des Buches zum Film wirken gewissermaßen irreführend. Suggeriert wird offensichtlich eine Liebesromanze mit französisch-exotischem Touch. Das ist doch Quark. In Wirklichkeit geht es um viel mehr als das, in Wirklichkeit ist das Ganze sehr viel kreativer und auf keinen Fall derartig fad. Man kann da wirklich nur die Nase rümpfen. Das tue ich in diesem Augenblick sogar.
Mit interessanten und charmanten, oftmals eigensinnigen Charakteren bietet Madame Mallory und der Duft von Curry (auch: Madame Mallory und der kleine indische Küchenchef) so viel mehr als ein immergleicher Nicholas Sparks. Nichts gegen Nicholas Sparks.

Der Roman hätte auch heißen können: Kochen mit Buchstaben. Wobei es sich weder um Buchstabensuppe noch um Russisch Brot handeln dürfte, denn das mag ich beides nicht. Ich werde paranoid, wenn mein Essen mir Botschaften sendet. Also: Kochen mit Buchstaben. Oder: Morais - ein Künstler. Wie man ein Buch schreibt, das beim Lesen Düfte absondert. Kleingedrucktes versichert dem Leser: Garantiert ohne Furz und Käsefüße.
Aber jetzt mal im Ernst. Selten passiert es mir, dass ich bei Beschreibungen von Düften, Lebensmitteln und Gerichten - in einem Roman, wohlgemerkt - Opfer einer übermäßigen Speichelproduktion werde.

Die Atmosphäre ist dicht und überaus plastisch. Als Leser wird man auf die Reise der indischen Familie mitgenommen und sieht die Orte so deutlich vor Augen, als ob sie wie in einem Videospiel vor des Lesers Nase generiert würden. Mit Geräuschen, Menschen, Gerüchen, mit der individuellen Stofflichkeit der Szene. Also doch eher ein Videospiel mit futuristischer Umsetzung.
Die vielen Zeitraffer und Ortswechsel können jedoch auch das Gegenteil bewirken, das kommt auf den Leser an. Wer eine Vertiefung braucht, eine Art Omnipräsenz von einem gewissen Ort und bekannten Gesichtern, der wird womöglich mit der Dynamik der Handlung nicht unbedingt warm. Tatsächlich wirkt das Geschriebene eher wie eine Biografie, wobei man nicht vergessen darf, dass jedes Leben ein Abenteuer ist.

Dieses wird durchzogen von einer gehörigen Portion Familienzusammenhalt, einem kleinen bisschen Liebe und vor allem: Frankreich. Paris. Nach all den Eindrücken verschiedenster Orte hier einer, an dem die Geschichte auf ihre Art sesshaft wird. Ich halte nicht unbedingt viel von dem Mädchenfilm-Image von Paris, aber während ich mich quasi selber dort befand, liebte ich es. Einfach, weil Liebe hineingeschrieben worden ist. Während ich das hier abtippe, befinde ich mich selbstverständlich wieder außerhalb der Geschichte. Und bin auch kein Fan von Paris mehr.

Der Fokus bleibt allerdings bei Hassans Karriere. Wer schnulzige Romantik erwartet, erhofft, muss rechtzeitig die Leiter von seiner siebten Wolke wieder hinunter zur Erde finden. Oder sie löst sich unter seinem Hintern auf. Dann könnte im Grunde alles passieren. Hinge von unzähligen Faktoren ab, zum Beispiel von der eventuellen Existenz von Schonern, Helm, sonstigem Körperschutz. Außerdem ist wichtig, worauf man fällt. Und, falls die Wolke sich über einem Ozean auflöst, der Grad der von dessen schuppigen und nichtschuppigen Bewohnern ausgehenden akuten Gefahr.
Was sich kompliziert ausdrücken lässt, geht eigentlich auch einfach. Rosarote Brille ab, Horizont erweitern. Hat auch, wenn man darüber nachdenkt, einige Vorteile. Wenn man diese dann nutzt, wie eine plötzliche Lust, sich am Herd zu versuchen, können die passenden Rezepte im Anhang des Buches eine Inspirationsquelle darstellen.

Resümierend sollte man froh sein, dass dieser besondere Roman verfilmt worden ist. Welch ein Sakrileg, verschwände er im Sumpf der vergessenen Geschichten.
Wenn man ihn ausgelesen hat, fühlt man sich so satt wie nach einem üppigen Mahl. Zufrieden satt. So zufrieden, dass man die oberen Knöpfe seiner Hose öffnen und seinen irgendwie riesig gewordenen Bauch liebevoll betätscheln will. Ein tolles Buch.