Vom Schämen zum Fremdschämen
ANDREA KÖHLER zu lesen ist Gewinn und Genuss. Ihre Spanne reicht von „Autokino bis Zwischengas“, mindestens. Ein Geniestreich über das WARTEN liegt in Übersetzungen vor: Passing Time - An Essay on Waiting; ...
ANDREA KÖHLER zu lesen ist Gewinn und Genuss. Ihre Spanne reicht von „Autokino bis Zwischengas“, mindestens. Ein Geniestreich über das WARTEN liegt in Übersetzungen vor: Passing Time - An Essay on Waiting; The Waiting Game: An Essay on the Gift of Time; El tiempo regalado oder L'arte dell'attesa. Richard Ford hat sich begeistert gezeigt. Die „Lange Weile“ oder die „Geschenkte Zeit“ - bei Ingeborg Bachmann war es noch eine „gestundete“ - ist eingespannt in den „Gezeitenwechsel von Kommen und Gehen“, folgt dem Pulsschlag von „An- und Abwesenheit“, begleitet den Künstler auf seiner eigensinnigen Reise: „In der Latenz der Seelenflaute lauert die gute Idee.“ Vom Warten zum Schämen ist es ein weiter Weg. Was Wolfgang Fach über „moralische Konflikte im politischen Kontext“ herausgefunden hat - „liberale Menschen vertreten keine positiven Werte“ und „tun sich von Natur aus schwer mit dem Strafen“ - hat eine „Welt der größtmöglichen Sichtbarkeit“ entstehen lassen, in der das früher unbekannte Fremdschämen erfunden werden musste. Denn zwischen Post-Op-Selfie und Dschungelcamp wurden die Zeitgenossen als Artisten in der Zirkuskuppel zunehmend sorglos und schamlos. Die Körper der Pikten wurden zu einer letzten „Sinnprovinz der eigenen Existenz.“ Das Zeitalter der Augenlust und der Fitnessgeräte ist eines der Schamlosigkeit geworden. Sie haben keine Bücher mehr!
Michael Karl