Starke Mädchen – starke Handlung
Mein Neffe hatte mir vom ersten Exit-Band erzählt, weil der ihm so besonders gut gefallen hatte, „wirklich gut gemacht“, meinte er, „nicht so ein Schrott, wie der Rest am Markt. Sogar mit funktionierender ...
Mein Neffe hatte mir vom ersten Exit-Band erzählt, weil der ihm so besonders gut gefallen hatte, „wirklich gut gemacht“, meinte er, „nicht so ein Schrott, wie der Rest am Markt. Sogar mit funktionierender Story, was echt selten ist“. Er ist ein richtiger Fan von Escape-Games, sowohl live als auch in anderen medialen Formaten. Als ich gesehen habe, dass es einen zweiten Band gibt, hab ich also zugegriffen, um mal nachzuvollziehen, was er so daran findet!
Und ich muss sagen, ich bin tatsächlich sehr positiv überrascht. Ich bin gar nicht so ein besonderer Knobelfan, dafür bin ich vielleicht auch einfach zu ungeduldig (auch wenn ich länger als ein Jahr sogar als Rätselredakteurin gearbeitet habe, aber das ist was anderes). Den Großteil der Rätsel konnte ich jedoch gut lösen (mit Hilfe), nur bei zweien stand ich etwas doof da, bis ich nachvollziehen konnte, wo’s eigentlich langgeht.
Aber was mich eigentlich viel mehr interessiert hat, war, dass ich hier ein richtig gut gemachtes Jugendbuch in der Hand hatte! Die Erzählung von Anna Maybach amüsiert durch ihren hintergründigen Humor und ist tatsächlich sehr spannend aufgemacht. Das ganze Prinzip ist wahnsinnig clever durchdacht, also das Konzept geht in allen Punkten auf, denn offenbar gibt es ja auch Exit-Spiele etc. Es ist grafisch toll gestaltet, was schon dazu führt, dass es großen Spaß macht, es in Händen zu halten. Großes Lob an den Verlag, dass hier eine Reihe mit hoher Qualität verfolgt wird, was leider wirklich selten geworden ist. Der Markt ist voll mit 08/15-Stories, die austauschbar geworden sind und sich durch nichts Besonderes auszeichnen. Dabei können gerade Jugendliche sehr gut erkennen, was billig gemachter Mist ist.
Willkürlich herausgegriffen hier ein paar Aspekte, die mir besonders gut gefallen haben: Der Cliffhanger am Anfang. Man wird als Lesende mit vollem Karacho in die Handlung geworfen, indem einer der Spannungshöhepunkte vorweggenommen, aber nicht aufgelöst wird. Man ist natürlich neugierig und will wissen, wie Protagonistin Mina um Himmels Willen in die Lage gekommen ist, Oli mit einer Herzmassage das Leben retten zu müssen. Im Prinzip ist man also sofort hooked und muss weiterlesen.
Dann ist Mina eine großartige Protagonistin – endlich mal ein Mädchen mit Witz, das zupacken kann, nicht auf den Kopf gefallen ist und im Zweifel blöde Machosprüche auch schon mal als das entlarven kann, was sie sind: dumm und einfach nur daneben. Dabei ist sie keine supercoole Überfliegerin, sondern einfach ganz normal und auch ein bisschen verknallt in ihren Tutor.
Daneben hat sich Anna Maybach Mühe gegeben, die ProtagonistInnen relativ divers zu gestalten, eher als Abbild unserer Lebensrealität. Es sind eben nicht nur die kinderbuchtypischen Mädchen- und Jungs-von-Nebenan, sondern es gibt Punks und Nerds, Pärchen und Singles, durchgeknallte und normale Leute, türkische Namen und queere Charaktere. Ich finde das alles so beachtlich, weil es eben auf knapp 160 Seiten stattfindet, inklusive Spannungsaufbau, Weiterentwicklung der Charaktere, Rätselhandlung. Und die Geschichte funktioniert dabei von Anfang bis Ende!
Atmosphärisch ist das Buch sehr dicht, die Düsterkeit des alten Freizeitparks, sein morbider Charme und auch die beginnende Vermischung der tatsächlichen Begebenheiten mit der Gruselstory, die die Partyveranstalter im Buch als Setting für ihr Rätselspiel etablieren, kommen sehr gut rüber. Daneben hat mich der leicht ironische Sprachwitz immer wieder zum Schmunzeln gebracht. Es gibt ein paar Einfälle, über die ich ständig kichern musste, z. B. das unzertrennliche Jungsduo (Marke eingebildeter Jura- oder BWL-Studentli mit Markenfetisch), das sich Mina gegenüber ziemlich ungehobelt und plump verhält, Max und Moritz zu nennen.
Was ich als Berlinerin besonders mochte: das Setting, die Stadt, den öffentlichen Nahverkehr und den verfallenen Rummel, hab ich trotz der Anonymisierung und der Absicht, die Stadt möglichst neutral zu halten, zwischen den Zeilen wiederkannt. Eher als Ahnung, als atmosphärisches Motiv. Das hat mir eine diebische Freude bereitet und ich habe große Lust, nachdem ich das Buch gelesen habe, mal eine Führung durch den verfallenden Freizeitpark im Plänterwald zu machen, dessen Riesenrad eben nach wie vor den Treptower Park so markant überschattet. Als ich in die Stadt gezogen bin, war der Freizeitpark noch aktiv und das verlassene Gelände übt heute (zumindest in der Fantasie) tatsächlich einen starken Reiz auf mich aus.
Tatsächlich hat ein Freund von mir (Produktdesigner, also auf sowas spezialisiert) einmal so eine Art Schnitzeljagd-Rätselspiel quer durch Berlin für eine Party entworfen, die er zusammen mit seinem besten Kumpel an einem See veranstaltet hat. Ich war in der Tat damals auch Studentin – nicht im ersten Semster wie die Protagonistinnen hier, aber doch noch ganz schön grün hinter den Ohren, zumindest, was die Stadt betraf. Hab übrigens vergessen, an welchem See das dann war, muss ihn mal fragen – irgendwo in Müggelseenähe, glaube ich. Ich weiß noch, dass ich einen der Hinweise bei einem vietnamesischen Imbiss, dessen Betreiber eingeweiht waren, im Prenzlauer Berg einsammeln musste, in der Gleimstraße, die (am Mauerpark gelegen) heute super hip und super gentrifiziert ist. Damals war das noch ne unbekannte runtergekommene Straße. Das war eine irre Tour und es ist ein Wunder, dass ich die Party gefunden habe!
Ich hatte also in Erinnerung an diese Aktion beim Lesen ein ganz, ganz fettes Grinsen im Gesicht, als Mina und die übrigen Partygängerinnen mit dieser rätselhaften Einladung in der Hand im Dunkeln durch die Stadt (Berlin) irren, um die Party im verlassenen Freizeitpark zu finden. Das war echt ein gelesenes Déja-vu-Erlebnis. Ich bin damals übrigens auch Bus gefahren, das gehörte dazu, eine bestimmte Linie zu finden und mit ihr ein bisschen Sightseeing durch die Stadt zu machen. Das ist also keineswegs weit hergeholt. Im Gegenteil, es war damals ein ganz besonderer Tag und ein ganz besonderer Spaß, dass dieser Freund sich eben die Mühe gemacht hat, genau so etwas zu entwickeln.
Alles in allem: „Der Jahrmarkt der Angst“ ist eine runde Sache. Ich werd’s gleich meiner kleinen Großcousine im richtigen Alter schenken und kann das Buch jedem und jeder als cooles Geschenk wirklich nur empfehlen. Oder selbst schenken lassen. Geht auch.