Ein schmales Büchlein, das es mächtig in sich hat
Worum geht's?
Für die 14-jährige Marie gibt es kein Zurück. Zu groß ist die Schuld, die auf ihren Schultern lastet. In einem kleinen Städtchen am Ende der Welt trifft Marie auf „Eisen-Berta“, eine grimmige ...
Worum geht's?
Für die 14-jährige Marie gibt es kein Zurück. Zu groß ist die Schuld, die auf ihren Schultern lastet. In einem kleinen Städtchen am Ende der Welt trifft Marie auf „Eisen-Berta“, eine grimmige alte Frau, die keine Fragen stellt. Sie bietet Marie Kost und Logis für ihre Hilfe. Marie geht auf das Angebot ein. Doch ihre Schuld ist auch am Ende der Welt allgegenwärtig – bis Marie einen Entschluss fasst …
Meine Meinung:
Marie muss weg – und es gibt kein Zurück. Ohne Erklärungen wirft Barbara Schinko ihre Leser in „Schneeflockensommer“ mitten in ein Geschehen, das geradezu verstört. Man beobachtet Protagonistin Marie, die verwahrlost und voller Verzweiflung sogar das Katzenfutter von einer Veranda stiehlt, um ihren Hunger zu stillen. Was ist dem Mädchen zugestoßen? Warum ist sie fortgelaufen?
So unscheinbar „Schneeflockensommer“ auf den ersten Blick auch wirken mag: Dieses Büchlein hat es mächtig in sich. Es ist eine Geschichte über dramatische Schicksalsschläge, über grausame Traumata und unverzeihliche Fehler. Mit knapp 150 Seiten ist „Schneeflockensommer“ wirklich kein dicker Schmöker, aber Barbara Schinko erzählt ihre Geschichte nicht ausschließlich über ihre gedruckten Worte zwischen den Buchdeckeln. Es steckt unheimlich viel zwischen den Zeilen, sodass man schon sehr konzentriert und aufmerksam lesen muss, um alle Ebenen der Geschichte zu begreifen. Leichte Lektüre holt man sich mit diesem Buch nicht ins Regal!
Von Anfang an ist es die seltsame, aber äußerst einnehmende Stimmung des Romans, die die Geschichte trägt. Barbara Schinko verfügt über einen intensiven, bildstarken Schreibstil, dem man sich nicht entziehen kann und der einem sogar jene Bilder vor das innere Auge zaubert, die man gar nicht sehen will. „Schneeflockensommer“ ist kein heiterer Jugendroman, will es mit seiner Geschichte aber auch gar nicht sein. Die teils sehr harte Thematik wird in Kombination mit Schinkos Erzählweise sicherlich nicht jedem Leser zusagen, aber es lohnt sich definitiv, mal einen Versuch zu wagen und einen Blick in das Buch zu werfen.
Barbara Schinko verpackt ihre düstere Erzählung in einer Art modernem Märchen. Vor allem die Leseatmosphäre erinnert mit ihrem kühlen, distanzierten und trotzdem faszinierenden Wesen an die altbekannten Volksmärchen. Aber auch innerhalb der Geschichte gibt es unzählige Anspielungen und Querverweise, die jeden Märchenfan aufhorchen lassen werden. Ganz „Schneeflockensommer“ hat etwas Surreales an sich und nicht selten stellt man sich als Leser die Frage, ob das eben Gelesene wirklich geschehen ist oder ob Barbara Schinko bloß die Konnotationen ihrer Leser geschickt ausnutzt, um die Geschichte in eine gewisse Richtung zu lenken und Hinweise zu liefern. Ich kann nur immer wieder betonen: „Schneeflockensommer“ spielt mit vielen stilistischen Mitteln, erzählt viel zwischen den Zeilen und ist damit alles andere als seichter Lesestoff, den man schnell von der Hand liest.
Bücher, die ihre Geschichten auf mehreren Ebenen erzählen, haben ihren ganz eigenen Reiz, besonders in Kombination mit der Märchen-Atmosphäre, die in „Schneeflockensommer“ stets präsent ist. Was bei der Handlung wunderbar funktioniert, entpuppt sich bei den Figuren jedoch als kleine Herausforderung. Sie wirken alle sehr kalt und reserviert und es benötigt einiges an Lesezeit, ehe man eine gewisse Beziehung zu ihnen aufbauen kann und man das Gefühl bekommt, sie zu verstehen. Das Durchhaltevermögen wird aber belohnt: Vor allem Protagonistin Marie ist ein starker, tiefgründiger Charakter, der beeindruckt.
Im Grunde fordert „Schneeflockensommer“ seine Leser zu einem Geben und Nehmen auf: Wer nicht dazu bereit ist, dem Büchlein seine volle Aufmerksamkeit und Auffassungsgabe zu schenken, wird auch nur mit einer oberflächlichen Handlung belohnt werden. Ganz wie im Märchen: Während die fleißigen Protagonisten belohnt werden, stehen die faulen Charaktere am Ende ahnungslos und unzufrieden dar. Barbara Schinko hat wirklich jedes märchenhafte Klischee genutzt.
Fazit:
„Schneeflockensommer“ von Barbara Schinko ist ein schmales Büchlein, das es mächtig in sich hat! Die Geschichte der 14-jährigen Marie, die vor der Last ihrer Schuld flüchtet, ist eine intensive und bewegende Leseerfahrung, die sicherlich nicht jedermanns Geschmack trifft, aber definitiv einen genaueren Blick verdient hat. Tragisch, berührend und knallhart, aber zeitgleich auch zart und feinfühlig beschreibt Barbara Schinko hier eine Geschichte, zwischen deren Zeilen mindestens so viel steckt wie in ihren gedruckten Worten. Aufmerksamkeit und Konzentration sind hier ein Muss! Viele Märchenandeutungen und Querverweise machen „Schneeflockensommer“ ebenso magisch wie tiefgründig. Für „Schneeflockensommer“ vergebe ich gute 4 Lurche.