Die unbekannte Schöne
Die brasilianische Autorin Clarice Lispector (sprich: Clarissi); 1920-1977) galt aufgrund ihrer herausfordernden Persönlichkeit, ihres unkonventionellen Schreibstils und nicht zuletzt wegen ihres außergewöhnlichen ...
Die brasilianische Autorin Clarice Lispector (sprich: Clarissi); 1920-1977) galt aufgrund ihrer herausfordernden Persönlichkeit, ihres unkonventionellen Schreibstils und nicht zuletzt wegen ihres außergewöhnlichen Aussehens als mysteriöse Person. Ihren Debütroman „Nahe dem wilden Herzen“ habe ich gelesen, allerdings nicht mit Vergnügen. Ihr zweites Buch „Der Lüster“, habe ich nach 60 Seiten abgebrochen. Benjamin Moser schreibt dazu: „Obwohl darin [Der Lüster] in langen Abschnitten vorgeblich Ereignisse beschrieben werden, bestehen diese fast ausschließlich aus inneren Monologen, die nur von gelegentlichen dissonanten Dialog- oder Handlungsfetzen unterbrochen werden. […] Zwischen diesen Erleuchtungen muss der Leser auf langen Durststrecken den inneren Entwicklungen einer anderen Person in mikroskopischem Detail folgen.“ (S. 191) Dazu war ich gerade nicht bereit. Das Wort „Frustration“ (S. 197) fällt, wenn es darum geht, die Inhalte von Lispectors Romanen zusammenfassen zu wollen. Selbst die Übersetzung ihrer Text sei eine Herausforderung (S. 262), da versucht werde, etwas zu glätten, was gerade ihre Sprache ausmache.
Obwohl die Biografie auch ihre Längen hat - Moser geht schon sehr ins Eingemachte und interpretiert gerne - ist sie ohne Zweifel für das Lesen von Lispectors Texten sehr, sehr erhellend. Clarices Familie flüchtete 1920/21 nach Pogromen aus der Ukraine nach Brasilien und hatte zuvor Schreckliches erlebt. Die Mutter starb schließlich an den Folgen und dieser Verlust in jungen Jahren findet sich nahezu im gesamten Werk der Autorin wieder. Lispector hat ein interessantes Leben geführt, war Diplomatengattin und hat auf der ganzen Welt gelebt. Sie war mit den Intellektuellen ihres Landes eng verbunden und demonstrierte gegen die Regierung.
Moser breitet das Leben u.a. anhand von zahlreichen privaten Dokumenten von Familie und Freunden aus, was einen tiefen Einblick in das Innenleben der Autorin gewährt und aufzeigt, welche Motive durch welche Ereignisse beeinflusst wurden. Daneben werden die Verflechtungen mit Politik, anderen Autor:innen, Verlagen und Weggefährt:innen dargestellt. Mir war es oft einfach zu verwickelt, da ich z. B. fast alle Namen der brasilianischen Intellektuellen nicht kannte; alles en détail zu beschreiben, war ich aber schon von der Biografie, die Moser über Susan Sontag geschrieben hat, gewöhnt.
Insgesamt eine interessante Biografie, einer mir bis vor kurzem nur dem Namen nach bekannten Autorin. Extrem detailreich, durch kurze Kapitel dennoch gut lesbar, wenn man die 532 Seiten inklusive Anmerkungsapparat durchhält. Unverzichtbar sind die weiteren Anhänge: Karten der Westukraine und Brasiliens, ein Familienstammbaum, umfangreiche Fotoseiten und Literaturangaben, dazu Namen- und Ortsregister.
Wer die Autorin entdecken möchte, sollte tatsächlich zuerst die Biografie und dann ihre Werke - vielleicht nicht gerade „Der Lüster“ - lesen.