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Veröffentlicht am 22.03.2025

"Der Drache ist nicht verhandelbar"

Die Nibelungen
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Alljährlich wird die Festspielbühne vor dem Wormser Dom zum Freilicht-Nibelungen-Spektakel. Von einer dieser Aufführungen handelt der Roman. Der Untertitel "Ein deutscher Stummfilm" erklärt sich für mich ...

Alljährlich wird die Festspielbühne vor dem Wormser Dom zum Freilicht-Nibelungen-Spektakel. Von einer dieser Aufführungen handelt der Roman. Der Untertitel "Ein deutscher Stummfilm" erklärt sich für mich dadurch, dass wir die Darstellung erzählt bekommen, vom "Zeitzeugen im Beiboot". Die SchauspielerInnen kommen lediglich in den Pausen zu Wort, wenn sie Interviewfragen beantworten. (Im Roman wird auch der Königinnenstreit als "Stummfilm"-Inszenierung bezeichnet.)

Was soll ich sagen? Ich hatte etwas völlig anderes erwartet. Eher die unterhaltsame Geschichte einer Aufführung, die durch Intrigen unter den SchauspielerInnen und unvorhergesehene Katastrophen aus dem Ruder läuft. Und eigentlich ist es auch ein bisschen so, aber eben auch ganz anders.

Die Autorin setzt zunächst eine ziemlich gute Kenntnis des Stoffes voraus, ansonsten könnten viele Anspielungen auf der Strecke bleiben. Und hier ist das mittelalterliche Heldenepos gemeint und nicht "Der Ring des Nibelungen" von Wagner. Ich hätte zum Beispiel nicht erwartet, den Begriff "Schneiderstrophe" nochmal außerhalb meines Studiums zu lesen. Der Text ist voll von Wortspielen und Satire und die Kombination des alten Stoffes mit modernen Elementen ist wirklich gekonnt. Ich fand das insgesamt ziemlich außergewöhnlich und auch witzig gemacht. Streckenweise etwas langatmig, aber insgesamt fühlte ich mich wirklich gut unterhalten. Tatsächlich wird das auch im Roman thematisiert, während eines Pauseninterviews: "Sein [Rüdigers] Tod zieht sich über Strophen und Seiten hin, an denen sich bestenfalls noch Mediävisten erfreuen. Frage: Und wie gehen Sie mit diesen Längen um?" (S.188) Nach einigen Erläuterungen zur Dramaturgie der Langsamkeit sagt der Schauspieler: "Die zweite Pause hätte man sich ohne Not sparen können. Kein Cliffhanger rettet die Nibelungen. Er dient einzig und allein dem Verkauf von Getränken, an dem wir als Schauspieler bekanntlich keinen Anteil haben." (S. 188) Ach, was!?

Fans des Nibelungenliedes werden garantiert auf ihre Kosten kommen, alle anderen können auch ohne den Roman Rhein und Donau entlang schippern.

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Veröffentlicht am 22.03.2025

Landkarte eines Lebens

Das rote Adressbuch
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Die Schwedin Doris ist 96 Jahre alt und gestürzt. Im Krankenhaus ist ihr einziger Kontakt ihre Großnichte in San Francisco, mit der sie sich über Skype austauscht. Gleichzeitig schreibt Doris ihr Leben ...

Die Schwedin Doris ist 96 Jahre alt und gestürzt. Im Krankenhaus ist ihr einziger Kontakt ihre Großnichte in San Francisco, mit der sie sich über Skype austauscht. Gleichzeitig schreibt Doris ihr Leben auf. Dabei hangelt sie sich an ihrem roten Adressbuch entlang und erzählt von den Menschen, die sich hinter den Namen verbergen. Neben den vielen ausgestrichenen Namen steht das Wort "tot". Doris ist die letzte, die noch lebt. Ein Gedanke, der ihr nicht besonders behagt.

Über das Leben von Doris habe ich sehr gerne gelesen, die mit 13 von zu Hause fortgeschickt wird, um arbeiten zu gehen und dann über Umwege in Paris zum Modell wird. Als der Krieg ausbricht, geht ihre Reise weiter.

Der Roman läßt sich wunderbar leicht lesen und auch wenn es gelegentlich etwas kitschig oder rührselig wird, hat er mir gut gefallen. Eine Reise durch das letzte Jahrhundert und zahlreiche Länder.

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Veröffentlicht am 22.03.2025

Bericht einer Isolation

Die Wand
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Etwas Unvorstellbares hat sich über Nacht ereignet: Eine unsichtbare Wand versperrt der namenlosen Ich-Erzählerin den Weg zurück ins Tal. Sie ist hinter dieser Wand in den Bergen gefangen, zusammen mit ...

Etwas Unvorstellbares hat sich über Nacht ereignet: Eine unsichtbare Wand versperrt der namenlosen Ich-Erzählerin den Weg zurück ins Tal. Sie ist hinter dieser Wand in den Bergen gefangen, zusammen mit wenigen Tieren, die schnell zu besonderen Lebewesen für sie werden. Ihr ganzes (Über-)Leben ist auf die Versorgung der Tiere ausgerichtet. Schwere körperliche Arbeit bestimmt das Leben der Frau. Hinter der Wand scheint es keine lebenden Menschen mehr zu geben, sie scheinen zu Stein erstarrt.

In diese völlig absurde Situation fügt sich die Protagonisten recht schnell ein. Ihr Bericht über das Leben hinter der Wand erscheint verhältnismäßig nüchtern und doch nimmt man großen Anteil an ihrem isolierten Dasein. Man freut sich über die getane Arbeit, leidet, wenn sie leidet oder es einem der Tiere schlecht geht. Die Beschreibung des täglichen Lebens wechselt sich mit den Reflexionen über ihr "altes" Leben ab und die Leser erfahren auch Details aus ihrer Vergangenheit. So läßt sich die Entwicklung der Figur gut nachvollziehen.

Das Mysterium der Wand wird nicht erklärt. Der Roman bietet viel Spielraum für Interpretationen. Gibt es die Wand wirklich? Ist sie Ausdruck für die innere Isolation der Frau? Ist die Protagonistin wirklich gefangen oder kann die Wand auch ganz anders aufgefasst werden? Eine Lektüre, die trotz des nüchternen Schreibstils und der immer wieder gleichen dokumentierten Tätigkeiten sehr zu fesseln vermag. Der Roman beinhaltet viele Facetten und Themen, die gar nicht alle angeschnitten werden können, von Depression bis Zivilisationskritik.

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Veröffentlicht am 27.02.2025

Recht und Gerechtigkeit

Dunkle Momente
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Neun hoch interessante Rechtsfälle läßt uns die Autorin gemeinsam mit ihrer Protagonistin, der Strafverteidigerin Eva Herbergen, verfolgen. In fast jedem Fall geht es um den Tod eines oder mehrerer Menschen. ...

Neun hoch interessante Rechtsfälle läßt uns die Autorin gemeinsam mit ihrer Protagonistin, der Strafverteidigerin Eva Herbergen, verfolgen. In fast jedem Fall geht es um den Tod eines oder mehrerer Menschen. Zunächst scheint der Sachverhalt einfach und klar, doch jedes Mal dreht sich die Geschichte so, dass sie unerwartet oder überraschend endet. Das ist trotz aller Tragik unheimlich unterhaltsam. Geschickt sind die Rechtsfälle in das Leben der Strafverteidigerin verflochten, so dass die chronologische Abfolge absolut Sinn macht.

Geprägt sind die einzelnen Fälle durch die menschlichen Schicksale, die hinter den Taten stehen - sei es beim Opfer oder beim Täter. Zu Recht ist man immer wieder hin und her gerissen zwischen Recht und Gerechtigkeit und der Frage nach der Moral. Welche Handlungen sind Verstöße gegen unsere Regeln, gegen unsere Gesetze? Lösen sie Schuldgefühle aus oder halten wir diese Verstöße für gerechtfertigt nach unserem ganz persönlichen Rechtsempfinden?

In einem eher nüchternen Ton nimmt uns Eva Herbergen mit in ihre Welt, in der jede zur Mörderin und jeder zum Mörder werden kann, dazu braucht es nur einen kleinen dunklen Moment.

Ich habe den Roman wahnsinnig gern und schnell gelesen. Da möchte man fast nochmal Jura studieren. Viele haben das Buch mit den Romanen von Ferdinand von Schirach verglichen. Von ihm habe ich leider noch nichts gelesen, das wird sich aber bald ändern. Wie von Schirach ist auch die Autorin Elisa Hoven selbst Juristin. Als Professorin für Strafrecht und Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof weiß sie definitiv, von was sie schreibt und das macht sie sehr leserfreundlich. Große Empfehlung.

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Veröffentlicht am 22.02.2025

Das Schweigen der Schwarzen Löcher

Portrait meiner Mutter mit Geistern
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Vier Frauengenerationen (am Ende kommt sogar noch eine weitere dazu), die wir durch das letzte Jahrhundert bis in die Gegenwart begleiten. Schicksalhaftes wird von einer Generation in die nächsten getragen, ...

Vier Frauengenerationen (am Ende kommt sogar noch eine weitere dazu), die wir durch das letzte Jahrhundert bis in die Gegenwart begleiten. Schicksalhaftes wird von einer Generation in die nächsten getragen, ohne die Fähigkeit, Worte dafür zu finden. Das (Ver-)Schweigen zieht sich als Motiv durch den ganzen Roman.

Raisa hat abenteuerliche Reisejahre hinter sich, als sich ihre Mutter Martha entschließt, in ihren kleinen Heimatort in Norddeutschland zurückzukehren, damit Raisa dort zur Schule gehen kann, Ende der 1980er Jahre. Aber Martha ist nicht glücklich. Sie ist ängstlich, verschlossen und ausweichend, wenn Raisa sie befragt. Sie hat eine Vergangenheit, die sie vergessen möchte.

Mit Martha und Raisa beginnt der Roman, um dann in zahlreichen Rückblenden, die nicht chronologisch angelegt sind, die Lebensgeschichten der Vorfahren hinzuzufügen. Die Frauen und ihre Schicksale stehen im Zentrum. Nur langsam erschließen sich die Zusammenhänge, vieles bleibt bis zum Schluss im Dunkeln oder wird nur angedeutet. Das wiederholt auftretende Motiv der Schwarzen Löcher greift hier besonders gut: Sie schlucken alles Licht und lassen nichts, was einmal in sie hineingefallen ist, wieder heraus. Es bleibt verschlossen, eingeschlossen, so wie die Traumata.

Das Buch ist ohne Frage eine Herausforderung, formal und inhaltlich. Ohne den beigefügten Stammbaum ist es gelegentlich schwer, den Überblick zu behalten. Wer hat nochmal was mit wem und wann erlebt? Es wiederholen sich Dinge, manchmal verschwimmen Teile, die man falsch zugeordnet hatte. Briefe werden geschrieben, Teile davon wieder durchgestrichen. Zettel werden in einer Steinmauer versteckt, die der Versuch sind, der Sprachlosigkeit zu entkommen. Die Autorin läßt bewusst einiges in der Schwebe. Das ist sehr kunstvoll gemacht, ebenso wie die verschiedenen Stimmen, die sie für die unterschiedlichen Figuren findet.

Die zahlreichen Figuren, unterschiedlichen Zeitebenen und -spünge, das nicht Auserzählte verhindern aber auch ein geschmeidiges Lesen. Ein eigenständiger und eigenwilliger Roman mit Ecken und Kanten, für den man sich Zeit nehmen muss.

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