Fesselnde, tiefgründige Familiengeschichte zur BLACK LIVES MATTER-Thematik
INHALT
Mallard, ein kleiner Ort im ländlichen Louisiana. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger ...
INHALT
Mallard, ein kleiner Ort im ländlichen Louisiana. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger zu werden scheinen. Hier werden in den 1950ern Stella und Desiree geboren, Zwillingsschwestern von ganz unterschiedlichem Wesen. Aber in einem sind sie sich einig: An diesem Ort sehen sie keine Zukunft für sich.
In New Orleans, wohin sie flüchten, trennen sich ihre Wege. Denn Stella tritt unbemerkt durch eine den weißen Amerikanern vorbehaltene Tür - und schlägt sie kurzerhand hinter sich zu. Desiree dagegen heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann. Und Jahrzehnte müssen vergehen, bis zu einem unwahrscheinlichen Wiedersehen.
(Quelle: Rowohlt Buchverlag)
MEINE MEINUNG
Die US-amerikanische Autorin Brit Bennett gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der US-amerikanischen Literatur und wird als würdige Nachfolgerin der Literaturnobelpreisträgerin und literarischen Grand Dame Toni Morrison gehandelt. In ihrem neuesten Roman «Die verschwindende Hälfte» erzählt sie eine bewegende, Generationen umspannende Familiengeschichte, in der die Emanzipation von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht eine tragende Rolle spielt. Hierin nimmt sich Brit Bennett zahlreicher wichtiger Themen an, die sich mit alltäglichem Rassismus, Diskriminierung und Gewalt gegen Afroamerikaner auseinandersetzen, aber sich auch eingehend mit Fragen der Besinnung auf die eigenen Wurzeln, der Identitätssuche, Lebenslügen und dem Umgang mit Transsexualität beschäftigen.
Obwohl der Roman in den USA derzeit als das Buch zur "Black-Lives-Matter"–Bewegung gilt, geht es der Autorin doch um viel mehr als nur um eine literarische Aufarbeitung von eingefahrenen Vorurteilen, alltäglicher Ausgrenzung und Gewalt gegen die afroamerikanische Bevölkerung in den USA und deren Folgen auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien.
Ihren Anfang nimmt die Familiengeschichte im fiktiven Südstaatenstädtchen Mallard im ländlich geprägten Louisiana in den 1950ger Jahren und führt uns bis in die 1990ger Jahre hinein.
Im Mittelpunkt des vielschichtig angelegten Romans stehen die Zwillingsschwestern Stella und Desiree, die in Mallard in einer afroamerikanischen Community aufwuchsen, die sehr auf ihre außergewöhnliche Hellhäutigkeit bedacht war. Im Alter von 16 Jahren verschwinden die beiden über Nacht aus der Stadt sind, um die Enge und Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen und in New Orleans ein neues Leben zu beginnen, doch trennen sich ihre Schicksalswege schon bald. Während Stella ihre Herkunft verleugnet, sich von ihrer Vergangenheit und familiären Wurzeln abwendet, um einen reichen Weißen Mann zu heiraten und als Weiße mit ihrer weißen Tochter Kennedy unter den Privilegierten in Los Angeles zu leben, heiratet Desiree einen tiefschwarzen Mann und bekommt mit ihm eine ebenfalls sehr dunkelhäutige Tochter, Jude. Mit ihr flüchtet Desiree schließlich vor ihrem gewalttätigen Mann zurück nach Mallard.
Auf sehr faszinierende Weise beleuchtet die Autorin in unterschiedlichen Episoden die miteinander verwobenen Schicksale ihrer sehr vielschichtig angelegten Frauencharaktere, gewährt Generationen übergreifende Einblicke und wechselt immer wieder zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen. So folgen wir den verschlungenen Lebenswegen der beiden Schwestern, erhalten aufschlussreiche Einblicke in ihr Seelenleben und erfahren schließlich immer mehr über ihre Bemühungen einen Platz in der Gesellschaft und in ihren so gegensätzlichen Lebenswelten zu finden. Sehr einfühlsam und anschaulich beschreibt Bennett, welchen Preis die beiden Zwillinge für ihre folgenschweren Lebensentscheidungen zu zahlen haben. Äußerst eindrücklich fand ich die Schilderungen von Stellas aufgewühltem Innenleben, ihrer permanenten Angst vor Enttarnung ihrer Lebenslüge, dem ständigen innerlichen Abwägen, der Einsamkeit und ihrem unbedingten Willen zur Assimilation bis hin zur Selbstverleugnung. Geschickt thematisiert die Autorin in ihrer tiefgründigen Geschichte auch den allgegenwärtigen Schmerz und die innere Zerrissenheit von Zwillingen, seine „andere Hälfte“ zu verlieren.
Im Laufe der fesselnden Handlung verfolgen zudem auch das bewegende Schicksal ihrer Töchter Jude und Kennedy, die sich zufällig begegnen, und das fragile Lügengeflecht ihrer Mütter ins Wanken bringen. Ihnen gelingt es schließlich die familiären Brüche, ambivalente Denkmuster, alte Vorbehalte und Klassenunterschiede zu überwinden, um ein neues Miteinander daraus erwachsen zu lassen. Ein überaus schöner, versöhnlich stimmender Ausklang!
FAZIT
Eine bewegende, vielschichtig angelegte und mitreißend erzählte Familiengeschichte über die Emanzipation von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht sowie über das Leben als „Falsche Weiße“.
Sehr lesenswert!