Rückblick
"Ganz oben ganz unten" von Christian Wulff vermittelt dem interessierten Leser einen guten Einblick, wie es hinter den Kulissen der Politik zuging - vielleicht noch immer zugeht. Wahrscheinlich hätte ...
"Ganz oben ganz unten" von Christian Wulff vermittelt dem interessierten Leser einen guten Einblick, wie es hinter den Kulissen der Politik zuging - vielleicht noch immer zugeht. Wahrscheinlich hätte dieses Buch gut 500 Seiten dick sein können und es wäre trotzdem nicht alles gesagt worden, was von Bedeutung war. Vor allem nicht über die Rolle der Medien/Journalisten. Inzwischen haben ja auch schon bekannte Journalisten öffentlich zugegeben, dass sie sich für das, was sie damals schrieben, heute zutiefst schämten. Hinterher ist man eben immer schlauer.
Natürlich schreibt Herr Wulff dieses Buch aus seiner Sicht, so wie die jeweiligen Journalisten damals aus ihrer Sicht berichteten. Ich denke, von niemandem kann man eine völlige Objektivität erwarten.
Zu Beginn geht Herr Wulff auf seinen Werdegang in der CDU, als auch die Vorbereitungen zur Wahl des Bundespräsidenten ein. Er war der Wunschkandidat von Frau Merkel. Ich habe mir zig aussagekräftige Sätze notiert, doch es würde den Rahmen sprengen, wollte ich diese komplett hier aufführen.
Christian Wulff war der bisher jüngste Bundespräsident. Sein Pech, Herr Gauck war der Favorit des Hauses Springer (S.44). Ch. W. geht zu Beginn des Buches auf die Medien und deren Berichterstattung ein. Auf S. 46 können wir lesen:"...Was den Spiegel und das Haus Springer jenseits aller Links-Rechts-Kategorie einte, war der Wunsch, Politik zu machen. Sie wollten nicht mehr über Stärken und Schwächen nominierter Kandidaten berichten, sondern selbst nominieren und Einfluss nehmen auf den Ausgang der Wahl. ...." Auf Seite 48 wird Frank Schirrmacher (FAZ) zitiert, "...Es fällt nicht schwer, in der aktuellen, völlig unpolitischen Debatte Züge des Selbshasses eines bürgerlichen Milieus zu sehen, dessen größtes Abenteuer das Bungee-Springen in Australien war". "Für dieses Publikum, das nach Unterhaltung lechze, sei Joachim Gauck der ideale Kandidat: Wie ein Romanheld lenke er das Publikum ab von seiner eigenen Bequemlichkeit: Der Selbstbetrug der Gesellschaft ist abenteuerlich".
Als Präsident war Ch. W. die Außenpolitik und ein gutes Miteinander der Staaten wichtig. Viele seiner Begegnungen mit anderen Staatsmännern kommen in dem Buch zur Sprache. Im Mai 2011, im Rahmen einer Informationsreise mit dem Diplomatischen Korps auf das Hambacher Schloss machte er auf einige Parallelen zwischen dem arabischen Frühling und dem langen beschwerlichen Weg Deutschlands zur Einheit in Freiheit und Frieden aufmerksam. " Deutschland ist eine junge Nation, die auf dem Weg zur Demokratie viele Rückschläge hinnehmen musste. Wir vergessen das gelegentlich, wenn wir draußen in der Welt mit erhobenem Zeigefinger aufteten". (S. 104)
Sehr interessant und verbindend seine Worte zu den Religionen. Ch. W. weist auf S. 154 des Buches darauf hin, "...dass Joseph Kardinal Frings 1965 türkischen Arbeitsmigranten die Seitenschiffe des Kölner Doms für ihre Gottesdienste zur Verfügung stellte. Damals gab es nicht genügend Moscheen in Köln, und so breiteten hunderte Muslime Ihre Gebetsteppiche im Kölner Dom aus, um das Ende des Fastenmonats Ramadan mit einem Gottesdienst zu feiern...." Ich glaube, den meisten Menschen in diesem Land war dies - genau wie mir - bis dato unbekannt.
Mit großem Interesse las ich seine Sicht auf die damalige Wirtschaftskrise. Vieles hat Ch. Wulff als Bundespräsident angestoßen, was von den Nachfolgern in diesem Amt vollendet wurde. Vielleicht war er dem Denken der damaligen Zeit einfach schon voraus.
Spannend wie ein Krimi lesen sich die Kapitel "Die Jagd" als auch "Die letzte Kugel". Es wird (S.177) eine überlieferte Anekdote des verstorbenen Spiegereporters Jürgen Leinemann zitiert, die das Verhältnis Journalisten - Politiker aufzeigt. Interessant auf der gleichen Seite:"....Als Hans Leyendecker im Namen der Redaktion der Süddeutschen Zeitung im Mai 2012 den Henri-Nannen-Preis für investigativen Journalismus ablehnte, um so gegen die gleichzeitige Auszeichnung der Bild-Zeitung für ihre angebliche Rechercheleistung in meinem Fall zu protestieren - eine Auszeichnung, die nach Meinung der Süddeutschen allen journalistischen Standdards Hohn sprach -, wurde dies von der Zunft als unsolidarisch gebrandmarkt. Die Jury sah sich mit der grundsätzlichen Frage konfrontiert, wie man eine journalistische Leistung bewertet und was mehr zählt: Die Solidarität der Recherche oder die beabsichtigte Wirkung."
Wie heißt es allgemein, "später ist man immer schlauer". So auch Ch. W., der auch seine eigenen Fehler darlegt, zu späte erkannte, dass er Situationen falsch einschätzte und in einigen Fällen auch falsch reagierte.
Inzwischen weiß man, dass Herr Wulff in langwierigen Prozessen völlig rehabilitiert wurde. Siehe das Kapitel "Das Recht". Auf Seite 256 findet dieser Polit-Krimi ein Ende und im letzten Absatz dankt Christian Wulff von ganzem Herzen allen Menschen, die ihm in dieser schwierigen Zeit beigestanden haben Christian Wulff hat inzwischen neue Betätigungsfelder gefunden. U. a. ist er im Auftrag der Kanzlerin für die Bundesrepublik Deutschland im Ausland unterwegs.
Ein Bildteil in der Mitte des Buches zeigt viele seiner politischen Stationen. Das letzte Bild wurde nach dem Freispruch am 27. Februar 2014 aufgenommen.
Während des Lesens dieses fesselnden Buches kam mir immer wieder ein altes deutsches Sprichwort in den Sinn, welches mein Opa - ein politisch interessierter und begeisterter Tageszeitung-Leser - sehr oft im Munde führte: "Einer ist dem Anderen sein Teufel".