Regt zum Nachdenken an
Autor Christopher Clark erzählt in einem Interview, dass ihn die Revolutionen des Jahres 1848, als er davon zum ersten Mal im Gymnasium gehört hat, schrecklich angeödet haben. Die Komplexität, die Vielfalt ...
Autor Christopher Clark erzählt in einem Interview, dass ihn die Revolutionen des Jahres 1848, als er davon zum ersten Mal im Gymnasium gehört hat, schrecklich angeödet haben. Die Komplexität, die Vielfalt der Schauplätze und Personen, der Lärm der widersprüchlichen Meinungen und Forderungen wirkten abschreckend auf ihn, zumal die Aufstände als gescheitert galten. Daher ist es gleich doppelt verwunderlich, dass Christopher Clark ein Buch mit über 1.100 Seiten schreibt. Ich habe zuvor schon „1848 Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution“ (Alexandra Bleyer) und „Die Flamme der Freiheit“ (Jörg Bong) gelesen und war daher auf Christopher Clarks neues Buch besonders gespannt.
Wie bei ihm üblich, geht er extrem ins Detail, was manchen Leser vielleicht ein wenig erschrecken wird. Allerdings, wird das Thema vermutlich eher jene Leser ansprechen, die Solches lieben. In insgesamt zwölf Abschnitten inklusive Einleitung, Schluss und Anhang versucht Christopher Clark die komplexe Sachlage in Europa darzustellen. Dabei beginnt er bereits im Jahr 1830, in dem sich Vorboten der Revolutionen von 1848 abzeichnen.
Die zwölf Abschnitte gliedern sich in:
Einleitung
Soziale Fragen
Ordnungskonzepte
Konfrontation
Explosionen
Regimewechsel
Emanzipation
Entropie
Gegenrevolution
Nach 1848
Schluss
Anhang
Im Anhang finden sich zusätzlich Karten, Anmerkungen und ein Personenregister.
Meine Meinung:
Wie wir es von Christopher Clark gewöhnt sind, ist sein umfangreiches Detailwissen, das er mit einer Ausführlichkeit seinen Lesern näherbringt, eine ziemliche Herausforderung. Ja manchmal verlieren sich Autor und Leser in zahlreichen Orten, an denen die Menschen Veränderungen herbeiführen wollen. Zumal Christopher Clark detailliert beschreibt, warum es zu den Ereignissen von 1848 kommt. Dazu nimmt er seine Leser in das Jahr 1830 mit, wo es in einigen Städten Frankreichs wie Lyon, Nantes oder Paris aufgrund der prekären wirtschaftlichen Situation zu Aufständen kommt.
Das Kapitel 1 "Soziale Fragen" Unterkapitel "Die Politik der Beschreibung" beschäftigt sich ausführlich damit . Dabei verwendet Clark die Statistiken und Aufzeichnungen von Ange Guépin und Eugène Bonnamy, die die die Bevölkerung von Nantes in 8 Klassen einteilen und beschreiben. Die unterste (= 8.) und hat nur rund 300 Francs/Jahr zur Verfügung. Hier zitiert er aus A.Guépin/E. Bonnamy, Nantes aux XIXe siècle, Statistique topographique, industrielle et morale, faisante suite a l'historique de progrès de Nantes, Nantes 1835" S. 484 bzw. S. 488, wie sich Einkommen und Ausgaben einer (Weber)Familie innerhalb des Jahres 1830 zusammensetzen.
Hier ist dann dem Übersetzer von Clarks Originalmanuskript ein echt böser Lapsus unterlaufen: Er beziffert die Ausgaben für STROM mit 15 Francs (von 300 Francs). Blöderweise gibt es elektrischen Strom erst ab 1880 in Frankreich. Solche Fehler verleiden mir das Lesen ziemlich, weil dann häufig Zweifel im Hintergrund aufkommen. Im englischen Original heißt es im Übrigen „light“, was von Talg- oder Öllicht bis Bienenwachskerzen alles heißen kann, was Licht spendet.
Wieso übersieht das Lektorat so einen groben Fehler? Vermutlich weil in den letzten Jahren über aktuell hohe Energiekosten geklagt wird - ein typischer Fall von „Priming“.
Nebenbei fehlt mir, bei Clarks sonst üblicher Detailverliebtheit, ein Kaufkraftvergleich zu heute. Der wäre hilfreich, um die Dimension des Elends besser einschätzen zu können, wenn nämlich rund 150 Francs ausschließlich für (trockenes) Brot und rund 104 Francs für Fixkosten (wie Miete etc.) aufgewendet werden muss, und nur 46 Francs für Gemüse und Fleisch (und nicht zu vergessen: Alkohol) zur Verfügung stehen. Außerdem wäre die Familiengröße zu berücksichtigen. Ja, Statistiken habe so ihren Pferdefuß. Sie können Fragen beantworten, offenlassen oder aber auch Neue aufwerfen.
Das Kapitel „Emanzipation“ hat mit der aktuellen Debatte rund um Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Frauen nichts zu tun. Hier geht es ausschließlich um Männer bzw. Berufsgruppen wie Bauern oder Juden.
Allerdings würdigt der Autor der Anteil, den die Frauen während der Aufstände innehaben, durch Augenzeugenberichte sowie Lieder, Gedichte und Gemälde, auf denen Frauen, die Barrikaden errichten, zu sehen sind. Hier sind historische Quellen Mangelware, denn Geschichte wird vor allem von Männern dokumentiert.
Zusammenfassend kann über „Frühling der Revolution“ gesagt werden, dass sich die Ideen von 1848 über ganz Europa und einige Länder außerhalb davon verbreitet haben. Allerdings gab es keinen Dominoeffekt und nicht immer veränderten die Verhältnisse zum Besseren, manchmal gab es auch Rückschritte. Christopher Clark offenbart jenen Lesern, die das 1.168 Seiten starke Buch durchhalten, einen mehrdimensionalen Blick auf die komplexen Ereignisse.
Leider ist diesmal das Lektorat bzw. die Übersetzung nicht mit der sonst üblichen Sorgfalt am Werk gewesen, weshalb ich einen Stern abziehen muss.
Das Buch selbst ist in gediegener Ausstattung als Hardcover mit zwei Lesebändchen (die auch unbedingt notwendig sind) erschienen. Neben den zwölf Kapiteln finden sich zahlreiche Abbildungen und im Anhang zusätzlich Karten, Anmerkungen sowie ein Personenregister.
Fazit:
Christopher Clarks neues Buch erweckt mit einigen neuen Erkenntnissen und zahlreichen Details diese höchst komplexen Ereignisse von 1848/49 zum Leben. 4 Sterne