In seinem neuen Buch setzt sich Daniel Hermsdorf mit gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen auseinander, die die Etablierung des Privatfernsehens auf deutschen Bildschirmen verstärkt hat. Von den neueren Veröffentlichungen zum Thema – wie Michael Jürgs’ „Seichtgebiete“ oder Alexander Kisslers „Dummgeglotzt“ – unterscheidet dieses Buch seine Detailgenauigkeit in der Interpretation: Es wird nicht nur referiert und bewertet, sondern präzise diskutiert, wie Medieninhalte konstruiert sind, wie sie Realität schildern, in welchen Kontexten sie stehen, wie Metaphern und Mehrdeutigkeiten entstehen und wie sie auf die Lebensrealität zurückwirken.
Ohne Rücksichten auf einseitige politische und wirtschaftliche Interessen zeigt Daniel Hermsdorf, wie TV-Programme Raubbau betreiben: an familiären Beziehungen, für die sie verlogene Ersatzbefriedigungen bereitstellen und noch indirekt Zuschauer verspotten, die hierin emotionalen Halt suchen; am nachhaltigen Wohlstand, indem sie Wertvorstellungen auf irreale und überteuerte Konsumangebote ausrichten, die beziehungslosen Hedonismus und Verschuldung provozieren sowie die Geburtenrate senken; an Ökosystemen, indem sie energieintensive Lebensweisen, kurzlebige Produkte und eine naturferne Beziehung zur Tierwelt etablieren.
Die krisenhaften Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, die in diesen Tagen öffentlich debattiert werden, hat v.a. das kommerzielle Fernsehen über ca. drei Jahrzehnte wesentlich mitgeprägt. Die Funktionsweise des Mediensystems – die Machtkonzentration in multinationalen Konzernen, der Niedergang des unabhängigen Journalismus durch kostenfreie Informationsangebote – hat dazu geführt, dass dieser kausale Zusammenhang immer seltener und vor schwindendem Publikum beleuchtet wird. Denn die Interessen von Werbekunden wie der Auto-, Kosmetik- oder Nahrungsmittelindustrie, der Finanzdienstleister und nicht zuletzt der Unterhaltungsbranche selbst stehen dem entgegen: Es soll konsumiert werden, auch wenn es der Umwelt, der physischen und psychischen Gesundheit, der demografischen Entwicklung und sozialen Gerechtigkeit abträglich ist.
Die Erzählungen von Idyllen und Verbrechen, (Pseudo‑)Dokumentationen von Alltäglichkeit und Sensation, die politische Arena und das Satyrspiel geben hierfür den Rahmen ab – RTL, Sat.1, ProSieben, VOX & Co. haben ihre eigenen publikumswirksamen Formen gefunden, entwickeln sie fort und werden von den Öffentlich-Rechtlichen imitiert.
Ist „Wer wird Millionär?“ ein alternativer Beichtstuhl, in dem Großinquisitor Jauch die Todsünde der Gier mit einer Psycho-Folter aus peinlichen und politisch unkorrekten Anspielungen vor einem Millionenpublikum abstraft? Ist die Fußball-Bundesliga eine psychoanalytisch fundierte zynische Pädagogik für jene infantilisierte, triebgestörte Masse, die sie zugleich selbst produziert? Führt die Ästhetik des Todes der Gerichtsmedizin-Serien den Zuschauern zugleich die Leblosigkeit einer ganzen Bildkultur vor Augen?
„Mit anderen Worten, es hängt ein bisschen davon ab, mit welchem Bewusstsein man die Scheiße produziert, die Sie sich zu Hause abends reinziehen.“ – So Harald Schmidt 2009 bei einem seiner Auftritte in „Schmidt & Pocher“ (ARD).
Da, wo Selbstkritik nicht so drastisch ausfällt, muss ihre Intensität dennoch nicht abnehmen. In fast allem, womit Zuschauer ihr guilty pleasure erleben, gärt das Verächtliche, Hinterlistige, zieht perfider und subversiver Geist doppelte Böden in die vermeintliche Authentizität, Euphorie oder Spannung. Eine boomende Medienindustrie braucht immer mehr toxischen Content.
In einer Krimi-Folge auf RTL heißt es von den biblischen Figuren, die ihr als „Die Reiter der Apokalypse“ den Titel geben: „Herr Spier – in Ihren Seminaren vertreten Sie die These, dass die apokalyptischen Reiter Symbole für die Kräfte sind, die die Gesellschaft zerstören.“ („R.I.S. – Die Sprache der Toten“, 2007) Solche „Symbole“ begegnen im Fernsehen allenthalben.
Massenmediale Texte der Gegenwart zu entziffern, ihre versteckten Aussagen zu erhellen und mit Realitäten zu konfrontieren, in denen sie selbst entstehen, ist die Mission von „Glotze fatal“. Denn die Sprache, die das Fernsehen spricht, ist nicht diejenige seines Publikums.
Eine Auswahl der Beispiele: 24 • Achtung Kontrolle! – Einsatz für die Ordnungshüter • Ärger im Revier • Alles was zählt • Die Alpenklinik • Die Autohändler • Bauer sucht Frau • Bones – Die Knochenjägerin • britt • Comedy Street • Crossing Jordan – Pathologin mit Profil • CSI – Miami • Deine Chance • Deutschland sucht den Superstar • Dittsche • Dog – Der Kopfgeldjäger • Einsatz in 4 Wänden • Exklusiv – Die Reportage • Formel 1 • Genial daneben • Germany’s Next Topmodel • Giraffe, Erdmännchen & Co. • Gute Zeiten, Schlechte Zeiten • In aller Freundschaft • K20 – Kommissare im Einsatz • Die Kinderärzte • Klinik unter Palmen • Lanz kocht • Lenßen und Partner • Der letzte Zeuge • Lost • Marienhof • Mario Barth präsentiert • Mitten im Leben! • Musikantenstadl • Mein Revier – Ordnungshüter räumen auf • Neues aus der Anstalt • Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln • Das perfekte Dinner • Post Mortem • Pures Leben – Mitten in Deutschland • Raus aus den Schulden • Richter Alexander Hold • Richterin Barbara Salesch • R.I.S. – Die Sprache der Toten • Scheibenwischer • Satire Gipfel • Schlag den Raab • Schmidt & Pocher • Six Feet Under – Gestorben wird immer • Sportschau • Tatort • Tierisch Kölsch • Tour de France • Das Traumschiff • U20 – Deutschland, deine Teenies • Unter uns • Verbotene Liebe • We are Family! – So lebt Deutschland • Wer wird Millionär? • Zwei bei Kallwass