Ein suggestiver Lesesog
Anne, Ende vierzig, verheiratet und Mutter, schreibt ihr zweites Buch. Dieses soll „ihr“ Buch werden, das Buch, in dem viel von ihr selbst, ihrem Leben, ihrer Vergangenheit und ihren persönlichen Erfahrungen ...
Anne, Ende vierzig, verheiratet und Mutter, schreibt ihr zweites Buch. Dieses soll „ihr“ Buch werden, das Buch, in dem viel von ihr selbst, ihrem Leben, ihrer Vergangenheit und ihren persönlichen Erfahrungen steckt. Die Rekapitulation vergangener Ereignisse weckt Erinnerungen: an die Frau, die sie einst war, an ihre Träume, Vorstellungen und Sehnsüchte, an die Männer, die sie einst liebte – oder nicht liebte – und an die Männer, die sie einst liebten – oder auch nicht liebten.
Ihre Auseinandersetzung mit der Anne von damals führt unweigerlich zu einer Betrachtung der Anne, die sie jetzt ist, des Lebens, das sie führt, der Gegenwart, die nicht nur ein gut situiertes, solides Familienleben vorhält – sondern auch Stéphane, den faszinierenden, äußerst anziehenden Musiker, der ebenso gebunden ist wie Anne, mit dem sie aber mehr verbindet, als – möglicherweise – ihrem Seelenfrieden zuträglich ist.
„Lichte Horizonte“ war ganz anders, als ich mir vorgestellt habe. Ich dachte, es handele sich um einen dieser Romane, die mal humorvoll, mal melancholisch, manchmal auch dramatisch oder gar tragisch das Leben einer Frau von Mitte/Ende vierzig reflektieren, ein – im besten Sinne – perfektes „Buch für zwischendurch“. Doch ich musste rasch feststellen, dass die Lektüre mich mehr bewegte, beschäftigte, gedanklich vereinnahmte, als ich erwartet habe. Und das lag vor allem an der Protagonistin und Ich-Erzählerin Anne, die mir nah genug war, um mich mit ihr zu identifizieren, und zugleich fern genug, um mich zu faszinieren. Ihre Worte, ihre von zahlreichen literarischen Anspielungen begleiteten Erinnerungen und Abschweifungen in die Vergangenheit (für mich als Literaturwissenschaftlerin ein besonderer Genuss) fügen sich zu einem assoziativen Erzählfluss, einem suggestiven Sog, der mich vereinnahmte, mich nahezu absorbierte. Eine für mich intensive Lektüre, die mich auch nach ihrem Abschluss noch eine ganze Weile weiterbeschäftigt hat.