Cover-Bild Der Mann, der alles sah
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23,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Kampa Verlag
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: allgemein und literarisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 288
  • Ersterscheinung: 22.10.2020
  • ISBN: 9783311100287
Deborah Levy

Der Mann, der alles sah

Reinhild Böhnke (Übersetzer)

London 1988. Der junge Historiker Saul Adler wird auf der Abbey Road angefahren. Nur leicht verletzt steht er auf und posiert für seine Freundin Jennifer Moreau auf dem Zebrastreifen, berühmt geworden durch das Beatles-Album. Das Foto nimmt er mit nach Ostberlin, wo er über den frühen Widerstand gegen den Nationalsozialismus forschen will. Dort begegnet Saul dem Übersetzer Walter Müller und dessen Schwester Luna, deren größter Wunsch es ist, endlich die Penny Lane in Liverpool zu sehen. Mit beiden beginnt Saul eine Affäre – und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Geschichte holt Saul ein, seine eigene und die Europas. Zeit und Raum lösen sich auf, Wahrheiten stehen auf schwankendem Grund, und keiner sieht, was der andere sieht. Bis Saul dreißig Jahre später wieder auf der Abbey Road steht – und allmählich begreift, was er, der so vieles zu sehen meinte, nicht erkannt hat, und was die anderen in ihm gesehen haben. Ein Roman darüber, wie wir unsere eigene und die kollektive Geschichte (zurecht)erzählen und wie wenig wir uns selbst über den Weg trauen können, im Leben und in der Liebe.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.12.2020

Die Abbey Road war sein Schicksal ( nicht Caine, Michael Caine! )!

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Exzeptionelles Buch einer außergewöhnlichen, meisterlichen Autorin, die hier ein Buch auf sehr hohem Niveau präsentiert! Unbedingt lesen!

Wer kennt nicht das famose Cover des Abbey Road - Albums der Beatles, ...

Exzeptionelles Buch einer außergewöhnlichen, meisterlichen Autorin, die hier ein Buch auf sehr hohem Niveau präsentiert! Unbedingt lesen!

Wer kennt nicht das famose Cover des Abbey Road - Albums der Beatles, auf welchem Paul McCartney barfuß mit den anderen drei hintereinander über diesen Zebrastreifen ebenjener Straße trotten. Und danach kam ja das Fama auf, Paul sei bei einem Unfall verstorbene, aber das nur am Rande. 

Saul Adler, 28 Jahre alt, will diese Abbildung nachstellen zusammen mit der Künstlerin Jennifer Moreau, 23. Aber wenn man solch eine Rekonstruktion verfolgt, sollte man tunlichst vorsichtig sein. 

Saul wird angefahren, aber nur leicht verletzt. Jennifer verschmäht und verläßt ihn. 

Saul ist Historiker. Sein Schwerpunkt liegt auf dem sozialistischen Osteuropa. Der kulturelle Widerstand gegen die Nazis annodazumal interessiert ihn ganz besonders. Deswegen will er mehrere Monate forschend in der DDR verbringen. 

Als er in Ostberlin quasi aufschlägt, ist der 30jährige Walter Müller, Dolmetscher, für ihn zuständig. Er fängt mit ihm als auch dessen Schwester Luna eine Troisième L'amour an. Walter pflegt zwei Existenzen. Seine offizielle systemkonforme und eben seine klandestine. Luna sehnt sich nach Reisen. 

Das Buch taucht unter anderem sehr authentisch in die Endzeit und verlorene Welt der DDR ein. Wer weiß in der heutigen Zeit des Überflußes noch wie es ist sich nach Ananas, Bananen und Meeresfrüchten zu verzehren? 

2016, als die Brexiteers Front machen scheint sich der Kreis auf unheimliche Weise zu schließen. Saul wird mit 56 Jahren tatsächlich und erneut auf der Abbey Road von einem Fahrzeug erwischt, auf jenem berühmten Zebrastreifen ...

Saul ist diesmal aber nicht glimpflich davongekommen. Schwerverletzt kommt er ins Hospital. 

Ein poatoperatives Delir ( Durchgangssyndrom ) und wohl Nebenwirkungen der Medikamente heben in der Ebene seiner Reminiszenzen alle Begrenzungen auf. Er springt hin und her. Nach und nach enthüllt sich mehr und mehr von Sauls Vergangenheit sowie seiner Familie. 

Deborah Levys Sprache ist poetisch, charismatisch, entrückend. Sie generiert beim Leser eine ganz eigene Magie. Man wird radikal subjektiv in Sauls Perspektive geschleudert. Man wird im Unklaren darüber gelassen, was nun wahr ist oder eben nicht. Verschiebungen, Verzerrungen, wie seltsame Spiegel, die die Reflektion abnorm wiedergeben, aber auf faszinierende Weise. 

Unerwartete Kehren, Clous, klasse pointierte Höhepunkte, Klimax und Antiklimax, sowie geschickte Irreführung und intellektuelle Anregung des Lesers. 

Deborah Levy ist eine Meisterin der literarischen Zunft, nein, eine Magierin! Geschickt jongliert sie mit Wortgebilden und Metaphern, lenkt den Leser raffiniert, der sich gerne in ihrem Buch verliert. 

Es läßt einen nicht kalt, ist emotional umgarnend auf erfolgreiche Art, involviert einen tief in eine superbe Handlung voller Enigmen und wird einen noch lange nach dem Lesen beschäftigen. 

Deborah Levy (* 6. August 1959 in der Südafrikanischen Union) ist eine britische Schriftstellerin.

Deborah Levys Vater war Historiker und Mitglied im African National Congress. Er wurde vom Apartheid-Regime inhaftiert und musste nach seiner Freilassung 1968 aus Südafrika nach Großbritannien emigrieren, die Eltern ließen sich 1974 in London scheiden.

Levy besuchte bis 1981 das Dartington College of Arts und begann, Theaterstücke zu schreiben, die auch von der Royal Shakespeare Company angenommen wurden. In Cardiff leitete sie die Manact Theatre Company. Sie verfasste eine große Anzahl von Stücken und auch Beiträge für Radio und Fernsehen. 1989 bis 1991 hatte sie ein Stipendium am Trinity College, Cambridge.

Mit einer Lannan Literary Fellowship im Jahr 2001 schrieb sie den Roman Pillow Talk In Europe And Other Places fertig. Die Romane Swimming Home und Hot Milk kamen im Jahr 2012 und 2016 auf die Shortlist des Man Booker Prize. Swimming Home, der auch ins Deutsche übersetzt wurde, spielt im Jahr 1994 und handelt von einer jungen psychisch kranken Frau, die sich in die Sommerresidenz eines bekannten britischen Schriftstellers und seiner Familie einschleicht und für zahlreiche Konflikte in der vermeintlichen Idylle an der französischen Mittelmeerküste sorgt. Hot Milk spielt während des Sommers in einem spanischen Fischerdorf und stellt eine junge Frau in den Mittelpunkt, deren Mutter unter mysteriösen Lähmungserscheinungen leidet.

Für die französischen Übersetzungen ihrer Autobiografien Things I Don't Want to Know (2014) und The Cost of Living (2018) wurde Levy 2020 der Prix Femina zuteil. ( Quelle der Kurzbiographie: Wikipedia )






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Veröffentlicht am 02.12.2020

Brillant und verstörend!

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Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, ...

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt.
Der erste Teil spielt im Jahr 1988, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer und der zweite Teil ist 2016, im Jahr des Brexitvotums, angesiedelt.

Mit Aufklappen des Buches begeben wir uns in den Herbst 1988 nach London.
Gleich zu Beginn werden wir Zeugen eines Unfalls auf der Abbey Road, also dort, wo die Beatles ihr berühmtes Albumcover aufgenommen haben.

Der 28-jährige Ich-Erzähler Saul Adler, ein Historiker, der das kommunistische Osteuropa beforscht, betritt einen Zebrastreifen und muss auf den Gehweg zurückspringen, als ein Jaguar ungebremst auf ihn zufährt.
Saul stürzt, der Fahrer, ein Mittsechziger mit silbernen Haaren, bremst und steigt aus.
Er ist besorgt, aber Saul scheint nicht allzu sehr verletzt zu sein.
Der größte Schaden ist wohl der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Warum sich Saul hier in der Abbey Road am Zebrastreifen aufhält?
...um von seiner 23-jährigen Freundin Jennifer Moreau, einer Kunststudentin, ein Foto von sich machen zu lassen, auf dem er in dieser legendären Straße den berühmten Zebrastreifen nach dem Vorbild der Beatles auf dem Cover ihres Albums „Abbey Road“ überquert.
... um dieses Foto der beatlesbegeisterten Luna Müller zu schenken, bei der er übergangsweise wohnen wird, wenn er in drei Tagen zu Forschungszwecken nach Ostdeutschland fahren wird.

Als wäre der Schock des Unfalls nicht schon genug, lässt der zweite Schlag nicht auf sich warten:
Trotz ihrer Leidenschaft für den hochattraktiven Saul lehnt Jennifer unberührt und kaltherzig seinen Heiratsantrag ab, weil dieser sich nicht ehrlich und ausreichend für sie und ihre Kunst interessieren würde... und weil sie ohnehin vorhabe, nach ihrem Examen in eine Künstlerresidenz nach Massachusetts zu ziehen.

Vor dem Hintergrund des Todes seines kommunistischen Vaters vor drei Wochen, hat Saul, der mit 12 Jahren schon den Verlust seiner Mutter verkraften musste, fürs Erste wirklich genug Erschütterungen zu verdauen.
„Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt.“ (S. 40)

Als Saul in Ostberlin ankommt, wird er von dem ca. 30-jährigen zuvorkommenden Walter Müller empfangen, der ihm als Dolmetscher zugeteilt worden ist und bei dessen Mutter Ursula und Schwester Luna er übernachten soll.
Das Foto, auf dem er genauso wie Jahre zuvor John, Paul, Ringo und George die Abbey-Road überquert, hat Saul dabei.
Die Dose Ananas, um die ihn Walter gebeten hat, hat er allerdings vergessen.

Im Verlauf der Lektüre lernen wir Saul aufgrund von eingestreuten Erinnerungen und Rückblicken immer besser kennen.

Er vermisst seine verstorbene Mutter, deren Perlenkette er trägt und er hat(te) ambivalente und konfliktreiche Beziehungen zu seinem autoritären, abwertenden und strafenden Vater und zu seinem Bruder, der ihn als Kind verprügelte.

Es ist äußerst interessant, in den Alltag der ehemaligen DDR einzutauchen und vom Heizen mit Braunkohle und Schlange stehen wegen einer der sehr seltenen Bananenlieferungen zu lesen.
Außerdem erfahren wir von den Gartenzwergen der Datschenbesitzer, vom Risiko, auf der Straße grundlos einen unbekannten Ausländer zu grüßen, vom allgegenwärtigen Interesse der Stasi und davon, dass Homosexuelle anscheinend das Regime destabilisieren.

Fast 30 Jahre später wird Saul, inzwischen 56 Jahre alt, erneut auf der Abbey-Road angefahren.

Wieder will er über den Zebrastreifen gehen, den die Beatles im August 1969 im Gänsemarsch überquert haben.
Wieder kommt ein Jaguar auf ihn zu.
Wieder hält er nicht an.

Ein Déja vue...
Aber Saul wird dieses Mal schwer verletzt. Er muss im Krankenhaus operiert werden. Der geringste Schaden ist der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Sauls Kopfverletzung und das Morphium gegen die postoperativen Schmerzen führen zu geistiger Verwirrung.
Die Zeit gerät durcheinander, Erinnerungen verrutschen und Inhalte verschieben sich.
Sie liegen jetzt lose nebeneinander wie Puzzleteile, die darauf warten, zu einem Bild zusammengefügt zu werden. Sie liegen herum wie die Splitter des Außenspiegels der Unfallfahrzeuge... zusammenhanglos und unsortiert.

Deborah Levy hat eine schöne, bildhafte Sprache und erzählt lebendig und flott.
Sie hält überraschende Entwicklungen und unvorhergesehene Wendungen bereit, was mich immer wieder staunen ließ und meine Neugierde auf das Kommende steigerte.

Ein Beispiel für eine wunderschöne bildhafte Formulierung möchte ich anführen:
„... dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.“ (S. 30)

Es ist brillant, wie sie den Leser überrascht, verblüfft, verunsichert, verwirrt und auf falsche bzw. unklare Fährten lockt.
Was ist wahr, was ist fiktiv?
Was ist Psychose, postoperatives Delir mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, was ist Traum, Erinnerung, Fantasie oder gegenwärtige Realität?
Was war früher, was ist heute?

Deborah Levy spielt mit den Wörtern, mit den Zeiten, mit dem Inhalt und letztlich mit dem Leser, der sich auf dieses Spiel einlassen muss, um ein überzeugendes Lesevergnügen zu erleben.

Der beeindruckende Roman der in Südafrika geborenen britischen Schriftstellerin Deborah Levy wurde für den Booker Preis nominiert und jetzt, nach der Lektüre, kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Er ist auf faszinierende Weise packend, mitreißend und berührend und übt einen regelrechten Sog aus.
Einmal begonnen, ist es schwer, die Lektüre zu unterbrechen.

Beim Zuklappen des Romans hatte ich das Gefühl, mich schütteln zu müssen wie ein Hund, der gerade triefend nass den See verlässt, in dem er gebadet hat.
Warum?
Um aus dieser Traumwelt aufzutauchen.
Um wieder in der Realität anzukommen.




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