Regt zum Nachdenken an
„Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich muss immer noch an den Dschihad denken.“
Fabian Reicher ist Sozialarbeiter und Streetworker und hat mit Unterstützung der Journalistin und Gerichtsreporterin Anja ...
„Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich muss immer noch an den Dschihad denken.“
Fabian Reicher ist Sozialarbeiter und Streetworker und hat mit Unterstützung der Journalistin und Gerichtsreporterin Anja Melzer dieses interessante Buch geschrieben.
Das Buch berichtet sehr persönlich über seine Erfahrungen mit radikalisierten Jugendlichen. Anhand von fünf Biografien stellt Reicher seinen Zugange und seine Arbeit vor. Dabei werden bisherige Deradikalisierungsprogramme, die häufig nur das Symptom behandeln, kritisch hinterfragt. Was steckt hinter diesem schleichenden Radikalisierungsprozess, den vor allem männliche Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren durchlaufen?
Fabian Reicher gibt zu, dass er und sein Team zu Beginn ihrer Tätigkeit als Streetworker überfordert waren. Er hat sich Hilfe von Experten wie Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger geholt.
Immer wieder betont Fabian Reicher, dass es notwendig ist, den radikalisierten Jugendlichen das Gemeinsame statt des Trennenden vor Augen zu führen. Also einen „Common Ground“ anzubieten, der in einen „Window of Opportunity“, in einen Zeitpunkt der Veränderung, mündet. Fabian Reicher ortet bei vielen der Jugendlichen ein stark ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden (das wir Erwachsene im Laufe der Zeit verloren haben), das von der Propaganda des IS ausgenützt wird, um die Jugendliche zu manipulieren.
„Es gibt ein großes Missverständnis in der Diskussion über die De-Radikalisierung von Jugendlichen. Es reicht nicht, ausschließlich auf der Ebene des Verstandes anzusetzen, denn in dem Prozess, der gemeinhin als Radikalisierung bezeichnet wird, ist vor allem die Ebene der Emotionen entscheidend. Und niemand wusste das besser als der sogenannte Islamische Staat. Die Propagandavideos hatten sich verändert. Das Kalifat war verbrannt, daher spielten sie ihre letzte und beste Karte aus. Sie setzten auf ein dunkles, kaum kontrollierbares Verlangen, das jeden heimsuchen kann: Rache.“
Fabian Reicher verhehlt nicht, dass der Weg extrem mühsam ist. Denn er kämpft nicht gegen die Gespenster des Radikalismus, sondern auch gegen die Trägheit der Politik. Für langfristige Projekte fehlt das Geld, falsch - es wird nur nicht bereitgestellt, weil die Politik nur an schnellen (oft kurzsichtigen) Lösungen interessiert ist. Eine Erkenntnis ist, dass der Prozess, durch den Jugendliche radikalisiert werden, nicht von außen „repariert“ werden kann. Die jungen Menschen müssen, wie Reicher sagt, „sich selbst rausholen“, er könne das nicht, allerdings durfte er sie auf diesem ihren Weg begleiten.
Als gutes Beispiel des Umgangs auf Augenhöhe nennt der Autor jene Rede des damaligen Innenministers Karl Nehammer, in der er jene Männer mit Wurzeln aus der Türkei bzw. Palästina, die beim Terrorüberfall in Wien im November 2020 Verletzte aus der Gefahrenzone in Sicherheit gebracht haben, öffentlich gelobt hat. Leider war das wenig nachhaltig, denn wenig später ist das „Anti-Terror-Maßnahmenpaket“ in der Regierung beschlossen worden.
Meine Meinung:
Durch die „Ich-Form“ als Erzählweise sind wir Leser ziemlich nahe an den Erlebnissen des Autors bzw. an den Jugendlichen dran. Wir lesen Auszüge aus Chats und dürfen an ihren Gedanken teilhaben. Manches habe ich noch nie aus dieser (deren) Sicht betrachtet.
Die Illustrationen passen sehr gut zum Inhalt und wirken empathisch.
Was ist aus den fünf Männern geworden, die hier im Buch zu Wort kommen?
Einer ist tot, einer wurde abgeschoben, zwei verbüßen eine Gefängnisstrafe und werden danach abgeschoben und einer schreibt an einem Buch über seine Erfahrungen, das demnächst erscheinen wird.
Fazit:
Das Buch eignet sich sowohl für Einsteiger als auch für Erfahrene im Umgang mit diesem schwierigen Thema. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.