Irre schön ist teils wirklich irre schön!
Mehr als ein Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung leidet unter depressiven Symptomen (Statista berichtete). Betroffene von psychischen Störungen haben nicht nur unter erheblichem Verlust an Lebensqualität ...
Mehr als ein Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung leidet unter depressiven Symptomen (Statista berichtete). Betroffene von psychischen Störungen haben nicht nur unter erheblichem Verlust an Lebensqualität zu leiden, nein: Auch das Umfeld leidet stark darunter und ist teils in weit verbreiteten Stigmata gefangen. Empathie für die Perspektiven zu schaffen, das haben sich Stef und Bonny Lycen in ihrer Anthologie «Irre schön» zur Aufgabe gemacht.
Konglomerat unterschiedlicher Textformen
Das vorliegende Werk ist in acht verschiedene Themenfelder gegliedert. Unter diesen finden sich ein Konglomerat unterschiedlichster Textformen: von Poetry Slams, Prosa und Gedichten über Auszüge aus Theaterstücken und stream-of-consciousness-ähnlichen Ergüssen, für jeden Geschmack ist etwas dabei.
Psychoedukation als Anspruch von «Irre schön»
Durchsetzt werden diese textlichen Beiträge durch aufklärende inhaltliche Inputs, die mit fundierten Fakten mit öffentlichen Vorurteilen aufräumen und ein Bewusstsein für das Problem schaffen wollen: „Psychoedukation“, so nennt sich die erfolgreiche Aufklärung über psychische Störungen.
Aufbrechen von Vorurteilen: Psychische Störungen sind Krankheiten
In diesen Einschüben definieren Stef und Bonny Lycen griffig verschiedene Ausprägungen mentaler Krankheiten und gehen deren Ursachen weiter auf die Spur. Zudem geben sie sowohl den Betroffenen als auch ihrem Umfeld Perspektiven und Ansprechpartnerinnen. Dass es sich etwa bei einer Depression um eine Krankheit und nicht etwa eine emotionale Laune handelt, und dass es okay (und keineswegs ein Zeichen von Schwäche ist!), sich Hilfe zu holen: mit diesen und weiteren Vorurteilen gehen sie hart ins Gericht.
Diese Sachinformationen sind zwar interessant und einfach formuliert, haben jedoch einen stark belehrenden Charakter: Dadurch, dass sie direkt nach den Texten platziert sind, in denen eine psychische Störung porträtiert wird, sprechen sie teils mit erhobenem moralischem Zeigefinger.
Qualitativer Unterschied der einzelnen Texte
Qualitativ schwanken die einzelnen Texte sehr, was ich vollkommen verzeihen kann: Während ich über die gewöhnungsbedürftige Affektivität eines Beitrags wie «Wenn deine Seele schon hängt, lass sie doch einfach … baumeln» die Stirn runzelte, konnten mich andere mit ihrer Ehrlichkeit, Authentizität und poetischen Schönheit begeistern und berühren. Teils greifen die Autorinnen jedoch auf eine derart explizite Formulierung zurück, sodass ich mir eine Triggerwarnung dringend gewünscht hätte.
Hier eine kurze Übersicht über die Texte, die mir am besten gefallen haben:
- «Der Tag, an dem die Angst das Fürchten lernte» (Helene Seidenfeder)
- «Dementor oder Depression» (Laander Karuso)
- «Mein grauer Planet» (Veronika Rieger)
- «Angst I-V» (Maria Victoria Odoevskaya)
- «Apfel oder Schokolade» (Katharina Wenty)
- «Du bist der Wald und ich bin das Meer» (Stef)
- «Creep» (Florian Hacke)
- «Philipp» (Aron Boks)
- «Dr. Zargota: Erste Sitzung» (Jan Lindner)
- «Das Geschenk» (Tina Nadler)
- «Toutes directions» (Christine Teichmann)
- «Wenn der Frühling kommt» (Felicitas Friedrich)
- «Wut gemacht» (Annette Flemig)
- «Schalt mal um» (Stef)
- «Das Wohl des sicheren Genicks» (Henrik Szanto)
Fazit
Eine berührende Anthologie, die Stigmatisierungen aufbricht und Betroffenen psychischer Krankheiten eine helfende Hand reicht: «Irre schön» ist streckenweise wirklich irre schön.