Hoch brisant und fesselnd bis zur letzten Seite
Nach endlosen acht Jahren ohne einen Krimi aus der Feder von Frank Tallis dürfen wir nun wieder in das Wien des Fin de Siècle eintauchen.
Man schreibt das Jahr 1904 und in einer alten, aufgelassenen ...
Nach endlosen acht Jahren ohne einen Krimi aus der Feder von Frank Tallis dürfen wir nun wieder in das Wien des Fin de Siècle eintauchen.
Man schreibt das Jahr 1904 und in einer alten, aufgelassenen Klavierfabrik wird der entstellte Leichnam eines Mannes gefunden.
Inspektor Oskar Reinhardt wird mit der Aufklärung des Mordes betraut. Es scheint, als wäre der Mann von einem Femegericht verurteilt und hingerichtet worden zu sein.
Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Hausmann und seinem Freund, dem Psychoanalytiker Dr. Max Liebermann versucht Reinhardt das Verbrechen in mühevoller Kleinarbeit aufzuklären. Reinhardt bedient sich dabei den neuesten Erkenntnissen der Kriminalistik wie z.B. der Daktyloskopie und nimmt Liebermanns Erfahrung im Umgang mit Verdächtigen in Anspruch.
Dass sie dabei einer Verschwörung, die bis in allerhöchste Kreise führt, auf die Spur kommen, können sie anfangs nicht wissen. Der oder die Täter scheinen immer einen Schritt voraus zu sein. Als sich dann noch der Geheimdienst einschaltet, ist neben Fingerspitzengefühl auch Raffinesse gefragt, denn der Fall beinhaltet sprichwörtlich jede Menge Sprengstoff.
Meine Meinung:
Wie wir es von Frank Tallis gewohnt sind, sind einfache whodunit-Krimis seine Sache nicht. Seine Kriminalfälle zeichnen sich durch einen komplexen Plot aus, der durchaus die eine oder andere überraschende Wendung bereit hält. Die historischen Details sind penibel recherchiert. So können wir neben medizinischen Größen wie Sigmund Freud auch Ferdinand Porsche begegnen, von dem sich Reinhardt und Liebermann in das (fiktive) Palais Khevenhüller bringen lassen.
„Sind Sie zufällig Ferdinand Porsche, der Gewinner des Exelberg-Rennens?“ (S. 368).
Ganz wohl ist dem Ermittler bei der Fahrt in der Kraftdroschke und dem Fahrstils nicht, aber sein Zweifel an der Sicherheit des Automobils räumt Porsche wie folgt aus: “ Es ist viel sicherer, als eine Kiste mit vier Rädern an vier Pferde zu hängen, die einander nicht mögen und Gehirne wie Walnüsse haben.“ (S. 370) Darüber musste ich doch sehr schmunzeln.
Porsche hat eine Fahrtzeit von vier Minuten versprochen, die Fahrt aber in 3:50 geschafft.
Neben so netten Zeitgenossen, treiben auch finstere Gestalten wie die Agenten der Ochrana, dem russischen Geheimdienst, und andere Verschwörer, die die Monarchie stürzen wollen, ihr Unwesen.
Auch Freuds Bemerkung über die Schriften von Gustave Le Bon, dem Arzt und Universalgelehrten („Psychologie der Massen“), „Politiker vereinfachen stark, binden das Publikum mit emotionalen Aufrufen, die mehr dem Vorurteil als dem Verstand geschuldet sind. Sie erhalten Auftrieb von Leuten die hinter ihnen stehen, werden vorangetragen von Wellen des Gefühls. Ja, eine politische Partei ist eine andere Form der Masse.“ (S. 254/255). Wie recht doch Prof. Freud hatte! Dieses Zitat hat mir kalte Schauer über den Rücken laufen lassen.
Neben der eigentlichen Krimihandlung und Jagd nach den Verschwörern können wir auch noch am familiären und kulturellen Leben der Familien Reinhardt und Liebermann teilnehmen. Die Freunde nehmen sich die Zeit für gemeinsame Liederabende, aus denen sie häufig neue Gedanken für ihre Arbeit schöpfen.
Schön ist auch der Seitenblick auf die jüdische Familie Liebermann senior, die nun endlich Amelia Lydgate kennenlernen und von der jungen, intelligenten Frau überrascht sind. Zuvor haben sie ja immer wieder erfolglos versucht, Max mit einer jüdischen Tochter des einen oder anderen Geschäftsfreundes zu verheiraten.
Fazit:
Dieser atmosphärisch dicht gewebte Krimi hat sich durch die sprachliche Gewandtheit 5 Sterne verdient.