Rumänien aus Vicas Sicht...
Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er ...
Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er nun auf Deutsch erschienen.
Vica Delcă ist die knorrige Hauptfigur dieses Romans. Während ihr Mann kaum noch das Bett verlässt, fällt der circa 70-jährigen Ehefrau daheim die Decke auf den Kopf. Also fährt sie spontan mit der Straßenbahn – natürlich zweiter Klasse, alles andere wäre Geldverschwendung – nach Bukarest hinein. Von diesem einen Tag handelt der ganze Roman.
Während Vica Delcă nun durch Bukarest fährt und ihre Schwägerin wie auch ihre frühere Arbeitgeberin zunächst gar nicht antrifft, breitet sie in einem inneren Monolog die Geschichte der beiden Frauen und nebenbei auch ihre eigene aus. Großbürgertum trifft hier auf Kleinbürgertum, Neid und Bewunderung auf Gesellschaftskritik. Vica Delcă spiegelt so die Sozialgeschichte einer Generation in Rumänien. Veränderungen, die der Kommunismus gebracht oder auch nicht gebracht hat, das Absetzen ins Ausland und die damit verbundene Enteignung, und dazwischen ist Vica Delcă, die in ihrem kleinen Laden immer irgendetwas zum Handeln hatte.
Ihr Mund sitzt nicht am falschen Fleck, so viel hat sie zu erzählen, dass Wiederholungen nicht ausbleiben. Das gehört auch zum Knorrigen der Hauptfigur. Auf manches kommt sie immer wieder zurück, meist mit anderen Gedankenpirouetten. Hinzu kommt eine Vielzahl an Rückblenden, das Ausmalen der Begegnung bereits auf der Fahrt oder beim Warten. Hinzu kommen jede Menge Urteile über die Mitmenschen, die allzu oft nicht allzu nett sind.
Mit ihrer schnoddrigen Sprache muss man Vica Delcă einfach liebgewinnen. Sie will niemandem etwas Böses, auch wenn sie in ihrem Urteil sehr direkt sein kann. Sie will von niemandem abhängig sein, auch wenn sie kleine Geschenke gern annimmt. Sie ist stolz auf das, was sie in ihrem Leben erreicht hat, auch wenn das heißt, stolz darauf zu sein, mit wenig Geld über die Runden zu kommen.
Geschickt springt die Handlung mit dem Betrachten eines alten Fotos in die Zeit von 1914/16, man springt in die Kindheit der Lehrerin Ivana. So nimmt der Roman auch die nicht ganz so junge Geschichte Rumäniens mit dem ersten Weltkrieg in den Blick.