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Veröffentlicht am 30.11.2025

Märchen mal anders erzählt

Maris Märchen
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Die Welt sieht anders aus in "Maris Märchen". Da muss Rotkäppchen im Rollstuhl zur Großmutter über den holprigen Waldweg und kommt prompt vom Weg ab. Vom Jäger wird sie als "Händikäppchen" verspottet und ...

Die Welt sieht anders aus in "Maris Märchen". Da muss Rotkäppchen im Rollstuhl zur Großmutter über den holprigen Waldweg und kommt prompt vom Weg ab. Vom Jäger wird sie als "Händikäppchen" verspottet und er klaut ihr auch noch all die guten Sachen, die sie der Großmutter bringen sollte! Wie gut, dass es da noch Wolf Wolfgang gibt, der ihr hilft! Bald schon spielen Rotkäppchen, die Großmutter und Wolfgang gemeinsam Mau-Mau und Canasta. 

Shari und André Dietz lassen in "Maris Märchen" keinen Stein auf dem anderen. Menschen mit Behinderung schlüpfen in die Rollen der Hauptfiguren. In Downröschen ist Rosi, ein Mädchen mit Downs-Syndrom, die Heldin, die von ihrem Henry wachgeküsst wird. Und Jochen-Günther ist das Humpelstilzchen. Gemeinsam mit der Müllerstochter Anneliese gelingt es ihm, das Kind des Königpaars zu retten. 

Nicht nur einmal musste ich lauthals lachen, auf welch unterhaltsame und überraschende Weise die Märchen von Shari und André Dietz verballhornt werden. Die Bilder von Saskia Gaymann  sorgen zusätzlich dafür, dass man nicht anders kann als zu schmunzeln. Eine herrliche Art und Weise jungen Lesern zu zeigen, dass man Menschen mit Behinderung ernst nehmen soll. Aber auch ältere Leser werden ihre Freude mit diesem Buch haben, da es allzu komisch ist, wie Grimms Märchen da gegen den Strich gebügelt werden. 

Maris Geschichte - sie hat das Angelman-Synrom und ist die Tochter der beiden Autoren - gibt den Rahmen für das Buch. Aus ihrer Sicht ist die Einleitung geschrieben und aus ihrer Sicht sind die Tipps geschrieben, wie man mit Menschen mit Behinderung umgehen soll. Nämlich so: 

"Wenn ihr also so jemanden trefft, lächelt ihn einfach an, kniept dreimal mit dem linken Auge und lasst ein nettes Wort fallen oder einen Pups los (über Pupse können fast ALLE lachen). Ihr wisst ja jetzt Bescheid! "

Ja, jetzt wissen wir Bescheid: Dass alle irgendwas können und irgendwas nicht. Und dass das auch gut so ist. 

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Veröffentlicht am 29.11.2025

Roman über den Widerstand der "Wäldler" in Litauen gegen die Nazis

Europäische Erziehung
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"Europäische Erziehung" heißt Romain Garys Roman über den litauischen Widerstand, die "Waldler". Geschrieben hat er ihn bereits im Jahr 1944. Nun ist er auf Deutsch erschienen. 

Der Roman beginnt fast ...

"Europäische Erziehung" heißt Romain Garys Roman über den litauischen Widerstand, die "Waldler". Geschrieben hat er ihn bereits im Jahr 1944. Nun ist er auf Deutsch erschienen. 

Der Roman beginnt fast wie eine Abenteuergeschichte: Doktor Twardowski gräbt mit seinem Sohn Janek im Wald eine Höhle aus, ein Versteck. "Old Shatterhand" nennt er ihn, den 14-Jährigen. Einen Schlafplatz hat die Höhle, eine Feuerstelle (mit Abzug) und einen großen Kartoffelvorrat. 

Doch bald schon wird deutlich, dass es mehr ist als ein Abenteuer - oder besser gesagt: etwas ganz anderes. Die beiden Brüder von Janek sind tot, sein Vater ist ein Widerstandskämpfer - und bald schon kommt er nicht mehr zum Versteck. Janek ist auf sich allein gestellt. 

Nach und nach beginnt er, die Umgebung zu erkunden, trifft auf Widerstandskämpfer, die sich im Wald verstecken - die sogenannten "Waldler". Für sie wird Janek Kundschafter und Bote und trifft eines Tages auf Zosia, die ähnliche Aufgaben im Widerstand erfüllt, vor allem spioniert sie die Deutschen aus. Gemeinsam überstehen sie den Winter, warten auf Nachrichten von der Front, von Stalingrad. Nicht nur einmal fragt man sich beim Lesen, wie sie denn unter diesen Umständen überleben konnten. 

Janek nimmt sich vor, über das, was er erlebt hat, ein Buch zu schreiben. "Europäische Erziehung soll es heißen und von Freiheit und Würde handeln, von der Ehre, ein Mensch zu sein. Das schließlich seien die europäischen Werte und nicht das, was die Nazis nach Litauen brachten. Dass Janek selbst im Krieg zum Mörder wird und einen deutschen Soldaten erschießt  - für die Partisanen ist es eine Notwendigkeit, ein notwendiges Übel. Für Janek ist es der Moment, der ihn vom Kind zum Mann werden lässt. Ein Mann allerdings, der bitterlich weint. Und er entschließt sich, dem Hass etwas entgegenzusetzen. Dem Kreislauf, der immer triftige Gründe findet, "um einen Menschen zu töten, der einem nichts getan hat" im Namen einer Sache.

Er fasst den Entschluss: "Ich will Musiker werden. Ich will Musik spielen und Musik hören, mein Leben lang". Musik als Versuch, der "zu Eis erstarrten Welt um sich herum" einen Sinn abzutrotzen. Der Welt, in der man "verdammt ist zum Töten und zum Sterben" einen Hoffnungsschimmer entgegenzuhalten. 

Romain Gary hat keinen Roman über Helden des Widerstands geschrieben. Vielmehr ein Buch darüber, was für Leid Krieg und Gewalt mit sich bringt. Und dass das Töten von Menschen nie zu einer Selbstverständlichkeit werden kann. 

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Veröffentlicht am 19.10.2025

Nicht meins

Wenn unsere Welt kippt
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Jandy Nelsons Jugendbuch „Wenn unsere Welt kippt“ war so gar nicht meins.

Die Geschichte um die Familie Fall in Paradise Spring ist sehr opulent angelegt. Drei Geschwister stehen dabei im Zentrum: Dizzy ...

Jandy Nelsons Jugendbuch „Wenn unsere Welt kippt“ war so gar nicht meins.

Die Geschichte um die Familie Fall in Paradise Spring ist sehr opulent angelegt. Drei Geschwister stehen dabei im Zentrum: Dizzy Fall, 12, in der Schule eher eine Außenseiterin – sie kann die Ahnen der Falls sehen. Dann ist da ihr Bruder Miles, 17, der sein Coming out erlebt und so Gefahr läuft, von everybody’s darling, dem „vollkommenen“ Miles, zum alles andere als perfekten Miles zu werden. Und schließlich ist da noch sein 19-jährier Bruder Wynton. Er ist ein begnadeter Geigenvirtuose, der mit seinem Spiel die Menschen verzaubert.

Eigentlich bräuchte es nicht mehr Personen, denn die drei Geschwister haben nicht nur alle ihre Eigenarten, die beiden Brüder verstehen sich zudem auch so gar nicht. Diese Kain-und-Abel-Story zieht sich durch das Buch. Nichtsdestotrotz ist da noch die Mutter und der verschollene Vater wie auch ein geheimnisvolles Mädchen, das allen drei Geschwistern begegnet. Viel Zündstoff also für ein Buch.

Zündstoff meine ich hier im wörtlichen Sinn. Denn tatsächlich prägen Konflikte die Beziehungen, die auch körperlich ausgetragen werden. Zudem werden Grenzen ausgetestet mit wilden Partys, Drogen & Co.

Dizzy wirkt dagegen eher pflegeleicht. Ihr Hauptproblem ist, dass sie aussieht „wie ein Frosch mit Perücke“, Gespenster sieht und von ihrem ersten Freund Lizard verlassen wird.

Im Laufe des Jugendromans wandelt sich das Bild vom selbstlos-sozialen Miles, der entweder Bücher liest oder im Tierheim aushilft, und vom bösen Bruder Wynton, der sogar im Gefängnis landet. Hier ist es Jandy Nelson gelungen, ein paar überraschende Wendungen einzubauen.

Was so gar nicht meins war, ist die Mischung, die Jandy Nelsons Jugendbuch prägt. Übersinnliches spielt eine große Rolle, von der Geister sehenden Dizzy bis dahin, dass Miles mit seinem Hund reden kann (der zudem unsterblich ist!). Also: ein schräges Fantasy-Mixtape, zudem noch die Geschichte der Vorfahren, die fast wie ein Märchen erzählt wird.

Dass die Erzählung einer Mutter, die ihr Kind extrem vernachlässigt, neben blumig ausgeschmückten Fantasy-Elementen steht, hat für mich überhaupt nicht zusammengepasst. Auch sprachlich stehen hier Welten gegeneinander. Sehr brutale Gewaltbeschreibungen („Ich schlage zu, bis mir die Knöchel bluten“) und obszöne Formulierungen („Was für ein Arschloch von Vater“; „ihr Name ist fucking Mary“) stehen neben humorvollen Lebensratschlägen („Das Leben ist eine nasse Socke, die man nicht ausziehen kann“) und kitschigen Küssen („Begehren pochte durch ihn durch“).

Auch gelingt es Jandy Nelson in ihrem Buch nicht, sich auf die Hauptfiguren zu konzentrieren. Alle möglichen Details werden auserzählt, auch bei Nebenfiguren. Erst auf den letzten Seiten ist der Autorin doch noch aufgefallen, dass sie doch irgendwann zum Ende kommen muss, und gibt Gas – vieles wie die langsame Erblindung einer Person, wird schnell so nebenher abgehandelt.

Fazit: Für mich war „Wenn unsere Welt kippt“ ein viel zu detailreich erzählter Schmöker, dem es nicht gelingt, furchtbare, realistische Lebensschicksale und märchenhaft erzählte Elemente in Einklang zu bringen. Es beißt sich ganz ordentlich in Jandy Nelsons neuem Jugendbuch.

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Veröffentlicht am 02.10.2025

Kein Voyeurismus

Die Ausweichschule
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Kaleb Erdmann war in der 5. Klasse, als ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums 2002 Amok lief. Über 20 Jahre später holt ihn das Geschehene wieder ein – und er schreibt ein Buch darüber, weil ...

Kaleb Erdmann war in der 5. Klasse, als ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums 2002 Amok lief. Über 20 Jahre später holt ihn das Geschehene wieder ein – und er schreibt ein Buch darüber, weil er „Erfurt loswerden will“. Weil er wissen will, „warum mein Höllenfenster plötzlich wieder offen steht“. Der Titel: „Die Ausweichschule„.

Ein „Wundenaufreißer“ will er keineswegs sein – auch wenn er selbst sich beim Erinnern an die Ereignisse immer wieder Wunden zufügt, an seine Grenzen kommt.

Dabei gehen in seinem Rückblick die Erzählebenen durcheinander, zeitlich inkohärent sind die Spurensuche beschrieben, die Erinnerungen des 5-Jährigen kritisch reflektiert, der rekonstruierte Tatablauf vergleichend einbezogen und der Besuch eines Theaterstücks zu einem Schul-Amoklauf erzählt. .

Das allerdings ist noch nicht der Clou der schriftstellerischen Annäherung, sondern die Konzentration auf die Suche nach Antworten und nicht auf die Tat selbst. Erdmann nennt im Roman selbst das Vorbild, an dem er sich orientiert: .Emmanuel Carrère. Der französische Schriftsteller hat es irgendwann aufgegeben, einen Roman über einen Mörder zu schreiben – und stattdessen entstand durch seine Tagebucheinträge ein Buch über seine Erfahrung mit der Arbeit an dem Buch – ein Buch für Carrères eigenen Konflikt mit dem Mörder, den er auch im Gefängnis besuchte.

Und so ist Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ ein Roman über die Erfahrung mit der Arbeit an einem Buch. Rückblenden, die Frage, ob der Wahrnehmung eines Fünftklässlers getraut werden kann, ob nicht durch Medien die eigene Erinnerung stark verändert wurde – all das gehört zu diesem Roman. Wie auch die Recherchen zum Täter und zum Tatablauf.

Da Erdmann ausführlich darauf eingeht, dass Carrére später in seinen Büchern Reportagen und Bericht, aber keine Romane mehr sah, ist es etwas verwunderlich, dass die Gattungsbezeichnung „Roman“ Eingang in den Buchuntertitel gefunden hat. Schließlich ist „Die Ausweichschule“ eher Metafiktion als Fiktion. Ein Bericht über ein literarisches Projekt.

Dass das Buch den Titel „Die Ausweichschule“ bekommen hat, passt zur Absicht des Autors: die Tat selbst steht nicht im Zentrum. Und so macht es Sinn, dass für Erdmann die Ausweichschule in einem anderen Stadtteil zur Tat von Erfurt genauso dazu gehört. Inklusive seiner Erfahrungen mit der Aufarbeitung durch eine Psychologin an der Schule.

Und ja: auch für Erfurt Irrelevantes findet seinen Platz im Buch – das Kunstprojekt einer Mitbewohnerin etwa -, weil eben das Leben des Schriftstellers in der Gegenwart spielt. Aber auch das lässt sich letztlich einbeziehen in Kaleb Erdmanns Leitfrage: Wie kann man mit einer so sinnlosen Gewalttat umgehen? Und was können Kunst und Literatur dazu beitragen?

Kaleb Erdmanns „Roman“ „Die Auseichschule“ gelingt es, dem Voyeuristischen einen Riegel vorzuschieben.

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Veröffentlicht am 27.09.2025

Ungefällige Erinnerungen, für Wanda-Fans

Dass es uns überhaupt gegeben hat
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Warum schreibt jemand ein Buch? Weil man etwas zu sagen hat, wäre meine erste Antwort. Nun gibt es freilich Bücher, bei denen das nicht ohne weiteres zutrifft. Marco 'Wandas Buch "Dass es uns überhaupt ...

Warum schreibt jemand ein Buch? Weil man etwas zu sagen hat, wäre meine erste Antwort. Nun gibt es freilich Bücher, bei denen das nicht ohne weiteres zutrifft. Marco 'Wandas Buch "Dass es uns überhaupt gegeben hat" gehört dazu. 

Die Schwierigkeit beginnt schon damit, zu bestimmen, was "Dass es uns überhaupt gegeben hat" überhaupt ist. Ein Roman ist es nicht. Eine Bandgeschichte genausowenig. Eine Biographie? Mitnichten. Geständnisse eines Alkoholikers? Kaum. 

Das Buch wirkt wie der Abruf von Erinnerungen. Unbearbeitet, ohne Filter. Wie die Vorstufe zu einem Buch. Der Sänger der erfolgreichen österreichischen Band Wanda, der sich Marco Wanda nennt, beginnt seine Erinnerungen mit den Anfängen von Wanda, bis zur erfolgreichen Band der Gegenwart. 

Die Entstehung von manchen Liedtiteln und Musikvideos wird etwas beleuchtet, der Zusammenhalt in der Band, der Alltag auf Tour. Über allem aber steht der Alkohol. Er gehört immer dazu. Kein Konzert, schreibt er, habe er nüchtern gespielt. Selbst im Urlaub in Paris wird der Wein nicht gläser-, sondern flaschenweise getrunken. Zerlegte Hotelzimmer und Dörfer (naja, Bushaltestellen, Blumenkübel, ...) lässt Wanda nicht aus. 

Auf den letzten Seiten endet dann der Drogenrausch - fast spielend leicht scheint ihm der Ausstieg aus Alkohol, Kokain & Co. zu gelingen. 

Beim Lesen habe ich mich immer wieder gefragt, für wen das Buch denn geschrieben ist. Literarisch hat es nicht viel zu bieten, und wenn ist es metaphorisch abgedreht, wenn etwa "die Zelte in der Mitte der Wüste der Unwissenheit" aufgeschlagen werden. Die Bandgeschichte ist reduziert auf Alkoholexzesse. Für einen Ausstiegs-Bericht ist die Abkehr von den Drogen viel zu knapp erzählt. 

Wanda-Fans mögen Gefallen an diesem Buch haben. Für alle anderen gilt: Muss man nicht gelesen haben. 

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